Artikel aus KONTEXT #05
07.05.2021
«Wir leben in einer Zeit, in der jede Menge Menschen, die bisher still waren, immer lauter werden.»
In der fünften Ausgabe des Magazins KONTEXT widmen wir uns dem Schwerpunktthema «Mad in Switzerland». Wir stellen Ihnen einige «verrückte» Menschen, Orte, Veranstaltungen und Ideen vor, die unser Land bereichern. Das Kontext #05 erscheint im Juni 2021. Einen Vorgeschmack geben wir Ihnen mit dem exklusiven Interview mit der Rapperin Steff la Cheffe, die über ihr Engagement als Botschafterin der «Mad Pride» vom 18. Juni 2022 spricht.
Marcel Wisler: Du bist Botschafterin der Mad Pride 2021 in Bern. Was fasziniert dich an der Idee?
Steff: Wir leben in einer Zeit, in der jede Menge Menschen, die bisher still waren, immer lauter werden. Seien es Frauen, people of color oder Leute mit eigenwilligen Lebensläufen. Gerade Menschen mit körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen leben am Rand der Gesellschaft. Deshalb ist es eine schöne Idee, wenn wir uns gemeinsam auf einen Marsch durch die Stadt begeben, der auf dem Bundesplatz in Bern endet. Wir zeigen damit, dass wir sichtbar sein wollen, gehört und gesehen werden wollen.
Vorbild der Mad Pride ist die Gay Pride. Glaubst du, dass sich mit solchen Aktionen im Lauf der Zeit Bewusstseinsveränderungen in der Gesellschaft erreichen lassen?
Da ist einerseits die Frage, was solche Aktionen innerhalb der jeweiligen Gruppe auslösen, und andererseits, was sie in der Gesellschaft bewirken. Für mich ist es wichtig, dass betroffene Menschen für sich selbst definieren, wie sie mit Zuschreibungen und Begriffen umgehen wollen. Die Deutungshoheit darf nicht der Mehrheitsgesellschaft überlassen werden, das muss die jeweilige Gruppierung selber in die Hand nehmen. Das schafft Selbstvertrauen. Ich kann nicht sagen, was die Aussenwirkungen sind, da ich keine Soziologin oder Psychologin bin. Aber ich weiss aus eigenem Erleben, was es in einem selbst bewirken kann. Ich nahm letztes Jahr am Frauenmarsch teil, und das war für mich ein sehr starkes Gefühl. Menschen sind sehr ungeduldig, oft wollen sie Wirkungen sofort erkennen. Aber Sensibilisierungsarbeit für stigmatisierte Themen ist eine Aufgabe über mehrere Generationen hinweg. Veränderungen sind dabei oft ganz subtil, nur in kleinen Schritten bemerkbar. Ich bin jedoch überzeugt, dass man Themen erst ans Licht bringen muss, was oft mühsam sein kann, ehe sie sich verändern können. Das beginnt mit der Konfrontation mit dem eigenen Schatten, der eigenen Madness. Ich habe mich vor einiger Zeit intensiver mit dem «Roten Buch» von C. G. Jung befasst, das gab mir sehr viele Inspirationen. Er regt in seinem Werk dazu an, sich die eigenen Schattenseiten bewusster zu machen. Beim Lesen seiner Texte hatte ich oft das Gefühl, der kann ganz genau beschreiben, was mich beschäftigt, welche Ahnungen in mir schlummern. Er hat ja von sich auch gesagt, dass er eine gewisse «Crazyness» besitzt und sich selber oft in seinen Schattenwelten verliert.
C.G. Jung war ja nicht nur Psychiater, sondern auch ein umtriebiger Künstler, und er ist für sehr viele Künstler*innen eine Quelle der Inspiration….
…ja, unbedingt, mit seinen Ideen, beispielsweise der Beschreibung der Archetypen, kann ich sehr viel anfangen, das erzeugt eine starke Resonanz in mir. Er ist mir um einiges sympathischer als Sigmund Freud, den ich auch punktuell gelesen habe, der mich aber weit weniger gepackt hat.
Du bist selber Künstlerin – es gibt viele Beispiele von prominenten Persönlichkeiten aus diesem Feld, die eher bereit sind, auch über psychische Belastungen zu sprechen. Jetzt, in der Corona-Pandemie, sind speziell auch Künstler*innen sehr herausgefordert und verunsichert. Auftritte vor Publikum fehlen, die Perspektiven sind ungewiss. Ist das in deinem Umfeld der Kunstschaffenden aktuell ein Thema?
Ich bin letztes Jahr aufs Land gezogen und habe mich zudem etwas von den sozialen Medien abgewendet. Auch bin ich nicht mehr so viel unterwegs wie früher. Aber mir kommt spontan ein Gespräch in den Sinn, das ich vor Kurzem mit jemandem aus der Kulturszene führte, und da wurde mir bewusst: Da gibt es sehr viele Menschen, die das Messer am Hals haben, die mehrmals Unterstützungsformulare ausgefüllt und immer noch keine Unterstützung erhalten haben. Da kommen viele an ihre Grenzen. Sie rotieren und sitzen wie auf einem Karussell, das nicht mehr zu stoppen ist. Das hat Auswirkungen auf die Psyche, nicht nur im Kulturleben, sondern in der Gesellschaft. Mir missfällt auch die öffentliche Diskussion zur Pandemie, die oft sehr einseitig geführt wird und nicht auf die Themen eingeht, welche die Menschen im Alltag beschäftigen. Das Geschehen ist sehr komplex, und allzu oft sucht man nach einfachen Antworten. Erstaunlich ist auch, wie alle über Gesundheit sprechen, die Zahlen und Fallstatistiken zu Corona auswendig kennen. Aber mich würde interessieren: Welche Auswirkungen hat das alles zum Beispiel auf die Psychiatrie? Weil ich glaube, dass die Krise vor allem für Menschen, die vorbelastet oder labiler sind, schwere Folgen hat. Viele haben Zukunftsängste, andere fürchten sich vor Einschränkungen in den Grundrechten. Da sind junge Menschen, die nicht mehr in den Ausgang gehen können. Eltern, die sich um die Entwicklung ihrer Kinder sorgen. Ich kann alle Seiten verstehen, denn es ist etwas paranoid, was im Moment abläuft. Ganz vieles, was Ausdruck von Lebensfreude ist, kann zurzeit nicht stattfinden. Der einzige gemeinsame Nenner, den es gibt, ist die Angst.
Wie gehst du damit um?
Mich hat diese Frage die ganze Zeit beschäftigt, weil ich wusste, ich will und muss mich auf irgendeine Weise dazu äussern, was gerade in der Welt passiert. Da erhielt ich wie als Geschenk des Himmels eine Anfrage, ob ich anlässlich des 100. Geburtstags des verstorbenen Dichters und Theologen Kurt Marti an einem Projekt mitmachen möchte, in dem Schweizer Mundart-Musiker*innen sich mit Texten seines Werkes auseinandersetzen und einen Song kreiieren. Mich hat seine Lyrik angesprochen, und ein Gedicht liess mich nicht mehr los.
«Mir hei e kei angscht,
will me
für angscht chönne z’ha
kei angscht
vor dr angscht
dörfti ha
mir hei kei angscht»
Als ich das gelesen habe, sagte ich: Merci, Kurt Marti. Du bringst es auf den Punkt, worum es geht. Mehr braucht man nicht zu sagen. Ich habe mich hingesetzt und wie manisch sieben Seiten mit meinen Gedanken dazu gefüllt. Daraus habe ich die Strophen geschrieben und das Gedicht von Kurt Marti als Refrain für meinen Song verwendet.
Wenn wir schon beim Berndeutschen sind: Die erste Nationale Mad Pride findet am 18. Juni 2022 in Bern statt, soll sich als Idee festsetzen und in Zukunft im Turnus in anderen Schweizer Städten durchgeführt werden. Der Stadtpräsident von Bern, Alec von Graffenried, sagt, Bern solle sich immer mehr zu einer inklusiven Stadt entwickeln. Glaubst du, dass dies möglich ist?
Ich finde, es gab in den letzten Jahren in Bern eine wunderschöne Entwicklung. Nachdem man früher viele Sitzgelegenheiten entfernt hat, fällt mir auf, dass es wieder mehr Bänke gibt und sogenannt randständige Menschen sich wieder vermehrt rund um den Bahnhof zeigen. Das stört viele, aber mir gefällt es. Der Ursprung des Leidens ist das Gefühl, getrennt zu sein – ob physisch, emotional oder psychisch. Und «es Bänkli» ist für mich ein Symbol für ein bisschen Ruhe und Pause, es kann ein Ort der Begegnung sein. In diesem Sinn ist es für mich ein Kompliment an die Stadt, dass sie dafür Raum bietet.
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Magazin KONTEXT
Dieser Artikel ist im KONTEXT #05 erschienen. Das Magazin erscheint zweimal jährlich rund um aktuelle Themen der psychischen Gesundheit. Möchten Sie das Magazin gratis erhalten? Werden Sie Mitglied im mental help club!