Interview mit Muriel Langenberger
10.10.2022
«In politischen Fragen ist das richtige Timing entscheidend»
Seit dem 1. September 2022 ist Muriel Langenberger die neue Geschäftsleiterin der Stiftung Pro Mente Sana. Sie ist Gründerin von Swiss Society Lab, leitete zuvor als Mitglied der Geschäftsleitung der Jacobs Foundation den Bereich Programme Europa und verantwortete die strategische Entwicklung des Schwerpunkts Frühe Kindheit. Mit der neuen Geschäftsleiterin von Pro Mente Sana sprach Marcel Wisler.
Zuerst einmal ist psychische Gesundheit ein dringliches und brisantes Gesellschaftsthema, weil es uns alle angeht und weil wir alle – sei es als Betroffene oder Angehörige – damit konfrontiert werden können. Ich glaube, dass die Thematik in den letzten Jahren, auch wegen Corona, an Aufmerksamkeit gewonnen hat. Aber es bleibt noch viel zu tun, um der Stigmatisierung entgegenzuwirken. Diese Aufgabe reizt mich.
Da frage ich dich, wer nicht? Bei mir begann es schon in der frühen Kindheit. Meine Grossmutter litt unter starker Depression, was unsere Familie prägte. Und kurz vor der Matura verlor ich eine Klassenkollegin durch Suizid. Das hat unsere Klasse, aber auch mich sehr stark beschäftigt. Wir wussten, dass es ihr nicht gut ging, waren aber hilflos und überfordert. Diese Erfahrung war sicher auch ein Grund, weshalb ich mich später im Kinderschutz engagierte und Mitbegründerin von 147 (Helpline der Pro Juventute) wurde. Zudem verlor ich meinen Vater nach langer Alzheimerkrankheit, er verbrachte die letzten acht Monate seines Lebens in der Psychiatrie. Die Begegnung mit psychischen Krankheiten gehört zu den Erfahrungen, die wir alle in unterschiedlicher Form machen. Die einen bewusster, andere verdrängen es vielleicht mehr.
Ich komme nicht direkt aus dem Gesundheitsbereich, sondern beschäftigte mich bisher mit Gesellschaftsfragen mit einem Fokus auf Familie, Kinder und Jugend. Aber was ich mit Sicherheit einbringen kann, ist die Vielseitigkeit meiner beruflichen Erfahrungen. Ich war beim Bund (Bundesamt für Sozialversicherungen), bei NGOs und in Geldgeber-Stiftungen tätig. Da habe ich gelernt, mich in komplexe Themen einzuarbeiten und unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Dabei war mir der Einbezug der Wirtschaft immer sehr wichtig. Eine meiner Stärken ist es, konstruktive Partnerschaften zu bilden, und die Erfahrung, was es braucht, um diese zum Erfolg zu führen.
Pro Mente Sana geht die psychische Gesundheit mit einem breiten Spektrum an. Sie fokussiert auf die Sensibilisierung der Bevölkerung und die Präventionsarbeit, engagiert sich aber auch in der Beratung und Unterstützung von Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten. Dazu begleitet sie psychisch erkrankte Menschen auf dem Weg der Genesung. Diese Vielfalt spricht mich an, ist aber natürlich aufwendig für eine Organisation unserer Grösse. Dazu bräuchte es politische Arbeit, um die Rahmenbedingungen zu verbessern. Bedarf zeigt sich klar im Bereich der Menschenrechte von Patient*innen und deren bessere Vertretung auf politischer Ebene. Es wäre ideal, wenn wir alles in den nächsten zehn Jahren aufbauen könnten. Zunächst wird aber wohl eine Konsolidierung erforderlich sein.
Die Pro Mente Sana ist ein wichtiger und anerkannter Akteur in Fragen der psychischen Gesundheit. Sie hat einen guten Ruf, das wusste ich schon im Vorfeld. Diesen will ich halten und ausbauen. Stand jetzt, lege ich meinen Fokus auf drei Punkte:
- Wir haben viele Angebote, Programme und Projekte. Diese will ich konsolidieren. Es geht nicht primär darum, neue Projekte zu lancieren, sondern die bestehende Vielfalt weiterzuführen, zu verbessern und deren Dringlichkeit transparent aufzuzeigen. Ich sehe ein Potential für Skalierung von einigen Modellprojekten, zum Beispiel von einem Kanton zu anderen.
- Der Weg der Enttabuisierung von psychischen Krankheiten bleibt ganz oben auf der Agenda. Erstmal soll das Thema gesellschaftlich mehr Akzeptanz bekommen. Es ist aber auch wichtig, dass Politik und Wirtschaft erkennen, dass grosser Handlungsbedarf besteht und wir ein kompetenter und zuverlässiger Partner bei der Abdeckung von Bedürfnissen sind.
- Und wie bei vielen NPOs ist es auch bei uns so, dass wir uns anstrengen müssen, die Finanzierung unserer Arbeit zu sichern. Da sind wir bereits gut aufgestellt, da wir unterschiedliche Modelle (Bund/Kantone/Private/Dienstleistungen) verfolgen, aber es bleibt eine Herausforderung, die wir permanent verbessern und optimieren müssen.
In politischen Fragen ist das richtige Timing entscheidend. Es braucht das Momentum, um mit Ideen, Vorschlägen und Vorstössen überzeugen zu können. Meine Erfahrung ist, dass dafür solide, faktenbasierte Daten und wissenschaftlich gestützte Argumente erforderlich sind. Und es braucht Allianzen und Partnerschaften, um gemeinsam überzeugende Lösungen zu entwickeln und zu vertreten. Dann bewegt sich etwas, sowohl in der Politik als auch in der Wirtschaft, die für mich der entscheidende Hebel für Veränderungen ist. Wenn diese Kreise überzeugt werden können, dann geht es los. Es braucht Hartnäckigkeit und einen langen Atem, das ist mir bewusst. Noch ist das Momentum nicht da, aber ich kann mir vorstellen, dass es nicht mehr lange dauert, denn die psychische Gesundheit ist ein entscheidender Faktor für eine resiliente, erfolgreiche und leistungsfähige Gesellschaft.
Das klingt nach einem klaren strategischen Plan, was mich zur Frage führt, wann die bestehende Strategie der Pro Mente Sana, die bis 2023 festgelegt wurde, erneuert wird.
Das wird eine der grossen Herausforderungen werden, auf die ich mich sehr freue und für die wir uns die notwendige Zeit nehmen müssen. Wir sind gerade dabei, mit dem Stiftungsrat den Fahrplan zur neuen Strategie festzulegen, die ab 2024 wirksam werden soll. Denn die Strategie ist ein Kompass, der die Richtung vorgibt und als alltägliches Arbeitsinstrument dient. Wo wir uns bereits einig sind, ist das weitere Vorgehen: Wir wollen die Strategie prozessorientiert entwickeln. Mit all unseren Gremien, aber auch mit den Mitarbeitenden und – für mich auch ganz wichtig – mit der Einbindung externer Partner*innen. Denn der Aussenblick ist sehr wichtig, um andere Perspektiven kennenzulernen.