Artikel aus KONTEXT #06
08.12.2021
Engagement für Menschen in äussersten Notlagen
Zu den Tätigkeitsfeldern von Pro Mente Sana gehört die Entstigmatisierung von psychischen Beeinträchtigungen und deren Prävention. Doch es gibt ein weiteres Engagement der Stiftung, das ihrem Urzweck entspricht: die anwaltschaftliche Vertretung von Menschen in Not. Ein solcher Mensch ist Herr S., dessen Geschichte hier beispielhaft erzählt werden soll.
Gleich vorneweg und Stand jetzt: Pro Mente Sana konnte einen schönen Erfolg verbuchen und Herrn S. zu einer einigermassen stabilen Existenz in Würde verhelfen. Doch was sich vom (vorläufigen) Ende der Geschichte her gesehen so einfach feststellen lässt, ist das hart errungene Resultat einer langen, verworrenen, schwierigen Geschichte, die das Engagement von Pro Mente Sana auf eine harte Probe stellte und alle Beteiligten herausforderte – nicht zuletzt wohl Herrn S. selbst.
Herr S. wandte sich vor drei Jahren erstmals an die psychosoziale Beratungsstelle der Pro Mente Sana. Damit nahm eine mehrjährige, fachlich und menschlich gleichermassen anspruchsvolle Begleitung sowie rechtlich komplexe Beratung ihren Anfang. Involviert war nicht nur das Beratungsteam, sondern auch der Präsident der Stiftung Thomas Ihde. Es entwickelte sich eine Geschichte, die in kein Schema passt, das Beratungsteam durcheinanderwirbelte und von keinem Budgetposten gedeckt ist.
Eine disruptive Angelegenheit
Schon beim ersten Kontakt mit der Geschäftsstelle wird klar, dass die Kommunikation mit Herrn S. jedes Gegenüber schnell an die persönlichen Grenzen bringen kann: Er ist aufgebracht, verlangt nach sofortiger Hilfe und wird laut, als der Rechtsdienst seine Forderungen und Erwartungen nicht umgehend erfüllt. Weil er nicht gleich bekommt, was ihm aus seiner Sicht zusteht, wendet sich Herr S. kurzerhand an den Präsidenten der Stiftung, Thomas Ihde. Ein ungewöhnliches Vorgehen, das jedoch unmissverständlich zeigt: Hier ist ein Mensch in Not.
Fortan arbeiten Thomas Ihde und die Beratungsteams der Pro Mente Sana Hand in Hand, um Herrn S. weiterzuhelfen. Es sind alle gefordert: Für den Rechtsdienst beginnt ein aufwendiges Zusammensuchen von Akten, ein mühsamer Gang durch Ämter und Institutionen. Für den Präsidenten gilt es, eine Beziehung durch alle Widrigkeiten hindurch aufrechtzuerhalten.
Der Präsident ist Psychiater – das hilft. Er ist übrigens der erste Psychiater, der der Stiftung in ihrer langen Geschichte vorsteht, denn die institutionelle Psychiatrie galt der Pro Mente Sana lange nicht eben als Verbündete. Das Konfliktpotenzial ist auch heute nicht restlos entschärft, aber im Fall von Herrn S. hilft es, dass Thomas Ihde Erfahrung hat in der Begegnung mit Menschen, die sich nicht an die gesellschaftlich geltenden Umgangsformen halten – sich nicht daran halten können.
Zum Zeitpunkt des ersten Kontakts mit Pro Mente Sana ist Herr S. psychisch schwer erkrankt; er ist weitgehend mittellos, hat keinen festen Wohnsitz und lebt in einem Camper. Diese Wohnform ergibt durchaus Sinn, denn sie entlastet Menschen, die im Clinch mit dem System sind und sich in einem engen sozialen Umfeld schnell bedrängt fühlen. In einem Camper zu leben erlaubt es ihnen, für sich zu sein und Konflikten mit potenziellen Nachbar*innen aus dem Weg zu gehen. Daher ist diese Lebensform bei psychisch belasteten Menschen gar nicht so selten. Hingegen ist ein fehlender fester Wohnsitz für zielführende Verhandlungen mit Behörden keine gute Voraussetzung.
Alles im Umgang mit Herrn S. ist also anspruchsvoll – es ist eine verworrene Angelegenheit, und das Fadenende, an dem man ziehen könnte, um alles zu entwirren, ist gut verborgen. Doch obwohl Herr S. sich unkooperativ, beratungsresistent und mitunter aggressiv zeigt, übernimmt die Rechtsabteilung von Pro Mente Sana auf die Bitte des Präsidenten hin den Fall, da Herr S. aufgrund seiner psychischen Belastung in eine grosse menschliche Notlage geraten ist – und für solche Menschen ist Pro Mente Sana da. Herr S. willigt denn auch zu dieser Zusammenarbeit mit dem Rechtsdienst ein. Thomas Ihde seinerseits übernimmt es, mit Herrn S. im Kontakt zu bleiben.
Auf Konfrontation mit dem «System»
Herr S. zeigt im Laufe der Begleitung immer wieder verschiedene Gesichter: Zum einen wird er als intelligent, empathisch und höflich wahrgenommen. Zum anderen wechselt er unter Stress die Rolle, dann wird er aggressiv, manipulativ und beschimpft alle, die nicht bedingungslos nach seinen Regeln handeln. Vor allem will sich Herr S. rein gar nichts vorschreiben lassen, schon gar nicht vom «System». Herr S. stellt, wie es den Anschein macht, den typischen Querulanten dar. Solche Menschen fühlen sich missverstanden, ungerecht behandelt und nicht gehört; sie bekommen nicht das, was ihnen aus ihrer Sicht zusteht, und sind auf Dauerkonfrontationskurs mit Behörden und Ämtern. Nicht selten besteht die Befürchtung, dass ihre zunehmende Verzweiflung sich auch in einer Gewalttat entladen könnte. Denn wenn sich Menschen in die Ecke gedrängt fühlen, können sie unberechenbar agieren, selbst wenn sie nicht noch zusätzlich an einer schweren psychischen Erkrankung leiden wie Herr S. Der Präsident sieht es neben der Fürsorge als seine persönliche Aufgabe an, das Gefährdungspotenzial, das von Herrn S. ausgehen könnte, immer wieder sorgfältig einzuschätzen und zu verhindern, dass Menschen zu Schaden kommen.
Menschen, die durch alle Maschen fallen
An der rechtlichen Front zeigt sich: Herr S. hätte Anspruch auf verschiedene Sozialleistungen, doch er ist weitgehend verarmt. Ohne festen Wohnsitz und ohne minimale Mitwirkungsbereitschaft des Klienten, der Klientin ist es nahezu unmöglich, AHV, Sozialhilfe oder Unterstützung für die Krankenversicherung zu beantragen. Die Angaben von Herrn S. bleiben oft unklar, sind teilweise widersprüchlich und lückenhaft. Deshalb gestalten sich die Abklärungen für den Rechtsdienst im Fall S. aufwendig, manchmal gar abenteuerlich. Doch die Pro Mente Sana lässt nicht locker und beantragt als Erstes bei mehreren Stiftungen sofortige Hilfe, da Herr S. Geld für Benzin, Gas und dringende Reparaturen für seinen Camper braucht. Nach langer Recherche und vielen Diskussionen mit Herrn S. findet sich schliesslich auch ein Pensionskassenguthaben bei einer Bank – ein Lichtblick.
Es läuft vieles schief für Menschen, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht konform verhalten können. Bei Herrn S. ist es die paranoide Persönlichkeitsstörung, die ihn ins Abseits geraten liess. Er hat zwar einen Beruf erlernt und eine Familie gegründet, doch das Gefühl, von allen und ganz besonders vom System betrogen zu werden, erlaubt es ihm nicht, ein einigermassen geordnetes Leben zu führen. Diese psychische Beeinträchtigung ist es, die Überzeugung, ein Opfer des Systems zu sein, die ihn zu einem Fall für die Pro Mente Sana macht.
Dass die Hartnäckigkeit der Stiftung Früchte trägt, ist ein Segen für Herrn S. Denn wer sich dem System verweigert, hat überaus schlechte Karten. Das System ist «defensiv» ausgerichtet und stellt zuerst einmal Forderungen, die erfüllt werden müssen, bevor Leistungen bezogen werden können. Wer nicht alle Unterlagen zur Verfügung stellt oder nicht in der Lage ist, andere Forderungen zu erfüllen – zum Beispiel physisch auf einem Amt oder bei einem Verein zu erscheinen, der Unterstützung anbieten könnte – der fällt schnell durch alle Maschen. Es mag unbequem sein, aber es ist die feste Überzeugung von Pro Mente Sana, dass unsere Gesellschaft auch für diese Menschen zuständig ist.
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Magazin KONTEXT
Dieser Artikel erschien Mitte Dezember im KONTEXT #06, das Magazin rund um aktuelle Themen der psychischen Gesundheit. Möchten Sie das Magazin gratis erhalten? Werden Sie Mitglied im mental help club!