Artikel aus KONTEXT #06
25.11.2021
Wer Schwäche zeigt, ist stark
Wenn Spitzensportler*innen öffentlich über psychische Probleme sprechen, sorgt das für Aufmerksamkeit. In den letzten Monaten nahmen diese Bekenntnisse rapide zu. So sorgten an den Olympischen Spielen in Tokio zum Beispiel die Tennisspielerin Naomi Osaka und die Turnerin Simone Biles für Schlagzeilen. Als sie ihre psychischen Belastungen ins Rampenlicht stellten, hatten sie ihre grössten Momente.
Vielleicht werden die Olympischen Spiele von Tokio als Wendepunkt in die Geschichte eingehen. Als der Moment, wo das Schweigen im Umgang mit psychischen Belastungen gebrochen und eine neue Zeit eingeläutet wurde. Olympia hat Stars hervorgebracht, die anders sind.
Da wäre Simone Biles, die amerikanische Turnerin, die bislang an Olympia nicht nur vier Goldmedaillen und 19 WM-Titel gewonnen hatte, sondern auch ihre Sportart revolutionierte. Nicht weniger als vier Elemente hat sie erfunden, die nun nach ihr benannt wurden. Für die Spiele in Tokio galt sie als Topfavoritin in fast allen Disziplinen. Doch dann begann sie mit einem missratenen Sprung, und es wurde erst im Nachhinein klar, dass in diesem Fehlversuch mehr steckte, als auf den ersten Blick sichtbar war. Unter Tränen offenbarte sie, dass ihre Dämonen der Angst und des verlorenen Selbstbewusstseins sie schon sehr lange belasteten. Sie erzählte, dass sie schon mehrmals therapeutische Hilfe in Anspruch genommen habe.
Das Drama der bestverdienenden Sportlerin der Welt
Ähnlich erging es Tennisstar Naomi Osaka. Noch vor Kurzem war sie die grosse Figur im Frauentennis und ein Vorbild über den Sport hinaus. Am letztjährigen US-Open verstand sie es auf eindrückliche Art, ein politisches Anliegen (Black Lives Matter) mit dem Sport zu verknüpfen. Bei jedem ihrer Matches schritt sie damals mit einer Maske mit dem Namen eines Opfers von rassistischer Polizeigewalt auf den Court. Doch danach begann sie offen über ihre mentalen Probleme zu sprechen. Dem steten Druck und Zwang zur Selbsterklärung in der Öffentlichkeit, ihre Depressionen. Am Turnier in Paris verweigerte sie Pressekonferenzen und schied dadurch aus dem Turnier aus. Dazu sagte sie: «Für mich hat meine psychische Gesundheit Vorrang vor allem anderen.»
Seither wird sie immer wieder darauf angesprochen. Vor heimischem Publikum an den Olympischen Spielen wurde ihr die grösste Ehre zuteil: Sie durfte das Olympische Feuer entzünden. Dass sie danach schon in der dritten Runde des Tennisturniers ausschied, schmälerte ihren Auftritt in keinster Weise.
Vielleicht verändert sich gerade etwas im Spitzensport
Nicht mehr Unbesiegbarkeit und das Streben nach immer neuen Erfolgen werden wertgeschätzt, sondern die neue Stärke ist das Eingeständnis von Schwäche.
Es war lange so, dass psychische Belastungen im Spitzensport verschwiegen wurden. Es gab zwar immer wieder prominente Sportler*innen (Fabian Cancellara, Mike Phelps, Lindsey Vonn, Ariella Käslin), die über ihre mentalen Probleme sprachen. Aber in der Regel war dies nach ihrer sportlichen Karriere – wohl aus der begründeten Angst heraus, dass dies in ihrer Aktivzeit negative Auswirkungen auf Sponsoren und Fans haben und ihre Vermarktung gefährden würde. Wie es scheint, wandelt sich gerade die Vorstellung von dem, was einen Star auszeichnet. Nicht mehr Unbesiegbarkeit und das Streben nach immer neuen Erfolgen werden wertgeschätzt, sondern die neue Stärke ist das Eingeständnis von Schwäche. So sagt zum Beispiel Armand Duplantis, Weltrekordhalter und mehrfacher Goldmedaillengewinner der Leichtathletik im Hochsprung: «Es ist grossartig, dass diese Probleme ausgesprochen werden. Es kann hart sein für einen Athleten, aber es ist gut, dass endlich darüber geredet wird.»
Bekannte Sportler*innen können den gesellschaftlichen Diskurs über psychische Probleme und persönliche Krisen befördern. Ihr Beispiel kann helfen, Tabus zu entkräften und ein Problembewusstsein zu schaffen. Vor allem immer dann, wenn die Offenlegung verantwortungsvoll und wohlüberlegt geschieht.
Doch wann helfen solche Bekenntnisse weiter? Und unter welchen Umständen schaden sie? Der Facharzt für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Robert Willi, der in seiner Praxis viele Prominente berät, sagt: «Für bekannte Persönlichkeiten ist das ein Dauerthema: Was kommuniziere ich nach aussen? Was halte ich besser geheim»? Er sei mit Ratschlägen in Richtung Offenheit immer vorsichtiger geworden: «Die Erfahrung zeigt, dass es zwar vordergründig Verständnis gibt und gelobt wird, dass Betroffene zu ihren Problemen stehen. Aber später ist man für viele doch nur der mit der Erkrankung.» Vor allem im deutschsprachigen Raum gebe es noch zu viele Ressentiments. In den USA etwa erlebten Klient*innen deutlich weniger Vorbehalte gegen Psychotherapie.
Den richtigen Umgang mit dem Thema finden
Bis zu einem gewissen Grad geht es öffentlichen Personen wie allen anderen Menschen in der gleichen Situation. Sie müssen einen für sich passenden Umgang mit dieser Information finden. Erzähle ich Bekannten, Freunden von meiner Belastung? Wie gehe ich am Arbeitsplatz damit um? Wie geht es mir damit, wenn andere von meinen Problemen wissen und mich möglicherweise darauf ansprechen?
Das sind Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind und individuell beurteilt werden müssen. Dass vermehrt berühmte Sportler*innen bereit sind, offen über psychische Belastungen in Leistungssport zu reden, ist eine grosse Chance, die längst notwendige Debatte aufzunehmen.
Als gutes Beispiel dient der Spitzenfussball in England: In der Premier League ist das Thema seit vielen Jahren auf der offiziellen Agenda der führenden Clubs wie Liverpool, Arsenal oder Chelsea. Dort gibt es in den Vereinen Ansprechpersonen, die sich als Hüter der psychischen Gesundheit sehen. Mit zahlreichen Programmen im Leistungssport und in den Jugendakademien, aber auch durch Aktionen mit den Fans erhält das Thema den Stellenwert, den es benötigt.
Die Stiftung Pro Mente Sana ist seit 2019 mit dem mehrfachen Fussball-Schweizermeister BSC Young Boys daran, sich in einer Partnerschaft gemeinsam für die Enttabuisierung von psychischen Erkrankungen zu engagieren. Ende November organisieren sie mit der Privatklinik Wyss und in Kooperation mit der Schweizerischen Gesellschaft für Sportpsychiatrie und Psychotherapie SGSPP das erste Sportsymposium «Bereit darüber zu reden? – Psychische Belastungen im Leistungssport». Erfreulicherweise nehmen mit Claudius Schäfer (CEO Swiss Football League), Denis Vaucher (CEO National League) und Roger Schnegg (Direktor Swiss Olympic) auch führende Vertreter des Schweizer Spitzensports daran teil. Die Diskussion ist somit lanciert und die nächsten Jahre werden zeigen, ob es auch in der Schweiz gelingen wird, das heikle Thema mit viel Fingerspitzengefühl und engagierter Ernsthaftigkeit voranzubringen.
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Magazin KONTEXT
Dieser Artikel erschien Mitte Dezember im KONTEXT #06, das Magazin rund um aktuelle Themen der psychischen Gesundheit. Möchten Sie das Magazin gratis erhalten? Werden Sie Mitglied im mental help club!