Artikel aus KONTEXT #05
16.06.2021
«Postkarten von den Toten»
In der Ausgabe #05 des Magazins Kontext richten wir unser Augenmerk u.A. auf Franco Arminio, einen Schriftsteller, der in Italien lebt, dem Land, das uns das Drama der Pandemie im Frühling 2020 erstmals so richtig ins Bewusstsein brachte. Der seit vielen Jahren unter Panikattacken leidende Poet hat mit seinen «Postkarten von den Toten» einen feinsinnigen literarischen Weg gefunden, Sterben und Tod aus einem tröstlichen Blickwinkel zu betrachten.
- «Jedes Gedicht, egal in welcher Form, sollte das Leben aller betreffen. Gedichte sollten nicht nur für ein kleines Segment der Menschheit geschrieben werden.» — Franco Arminio
«…Franco Arminio richtet den Blick aufs Leben aus der Perspektive des Todes – ‹dieser Sache, die vielleicht alles regiert, diesem Nichts, das alles stürzt und alles zerfrisst›. Indem er den Toten eine Stimme gibt, vielmehr indem er ihnen die Möglichkeit gibt, sich mit einer letzten Postkarte an die Lebenden zu wenden, bringt er die Toten in den Alltag zurück. Er nimmt dem Tod seinen Schrecken, weil er mit diesen Postkarten zeigt, dass der Tod genauso banal sein kann, wie wir ihn uns erhaben wünschen, dass er genauso komisch und absurd sein kann, wie er für uns gemeinhin düster-traurig ist.» Eine Kurzbeschreibung von Anita Rüegsegger und Res Brandenberger, die das das Büchlein «cartoline dai morti» übersetzt und 2020 in ihrem Verlag «allenfalls» unter dem Titel «Postkarten von den Toten» herausbrachten.
Und genau das sind sie, die «cartoline», manchmal absurd, oftmals paradox und lakonisch, jede einzelne aber geprägt von grosser Menschlichkeit, nicht wertend, nur erzählend. In 150 kurzen Erzählungen, einer pro Seite, ohne Titel und ohne Grussworte lässt Arminio, manchmal nur in zwei, drei Sätzen, die Toten den Moment ihres Sterbens erzählen, letzte Wahrnehmungen, Gedanken, Wünsche schildernd, uns aber auch ihre Eindrücke aus dem Jenseits erzählend.
Roberto Saviano, Autor des weltberühmten Buches «Gomorrha», nennt Arminio einen der grössten zeitgenössischen Dichter Italiens. Er ist nicht nur Dichter, Schriftsteller, Journalist und Regisseur, sondern auch «paesologo», also so etwas wie ein «Dorfkundler», und Volksvertreter, auch wenn er sich selbst als gescheiterten Politiker bezeichnet. Als «paesologo» und politisch denkendem Menschen liegen ihm die Dörfer des italienischen Appenins und des Südens sehr am Herzen, diese vergessenen und entvölkerten Orte, aus denen die junge Bevölkerung nach wie vor abwandert, weil sie kaum Zukunftsaussichten bieten. Kommt man mit ihm ins Gespräch, spricht Arminio mit Leidenschaft von Dörfern wie Bisaccia, ein kleines Dorf in der Provinz Avellino, in dem er seit seiner Geburt lebt.
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Franco Arminio (FA): Meiner Meinung nach kann die Poesie gerade in Krisenmomenten sehr hilfreich sein. Vielleicht blätterst du in einem Gedichtband und merkst plötzlich, dass es dir ein bisschen besser geht. Natürlich ist dieser Effekt nicht garantiert. Wenn du das Gedicht an einem anderen Tag liest, berührt es dich kaum. Manchmal funktionierts, manchmal nicht. Für mich sind Gedichte wie Heilmittel, Heilmittel für den Geist und natürlich auch für den Körper, da beide ja nicht voneinander getrennt betrachtet werden können. Ich denke ausserdem, dass gerade in Italien Gedichte wichtiger geworden sind, weil andere Bezugspunkte zusammengebrochen sind.
Früher gab es die politischen Parteien, die Kirche und die lokalen Gemeinschaften. Man lebte an einem Ort, hatte da seine Familie, die Freunde und konnte sich austauschen auf der Strasse oder der Piazza, das eigene Unbehagen, aber auch die Freuden teilen. Schon vor Corona sind diese Austauschmöglichkeiten immer mehr verschwunden. Selbst die Kirchen, ein Ort, an dem sich die Menschen früher getroffen haben, sind leer, da sich viele von der Religion abgewandt haben. Wie in den grossen Städten existieren auch in den kleineren Dörfern die Gemeinschaften und Vereine nicht mehr. Die tragenden Strukturen, welche die Gesellschaft zusammengehalten haben, sind zusammengebrochen. Hier können Gedichte ein Ersatz sein, die Möglichkeit bieten, sich für einen kurzen Moment aus dem Alltag rauszunehmen, sich seiner Gefühle gewahr zu werden und dadurch dem Gefühl des Alleinseins zu entrinnen.
LP: Bei dir habe ich das Gefühl, dass du ein politischer Mensch und sehr nahe an den Menschen bist. Müssten sich Dichter*innen und Schriftsteller*innen mehr einmischen?
FA: Viele Dichter*innen würden das gerne tun. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass es für die Politik, die Zeitungen und Journalist*innen bequem ist, wenn die Dichter*innen ein bisschen abseitsstehen. Dadurch können sie einen Raum besetzen, der eigentlich den Dichter*innen zusteht und meiner Meinung nach auch besser von ihnen ausgefüllt werden könnte. Nehmen wir die Corona-Krise: In Italien gibt es jeden Abend Talks zum Thema, obwohl es nicht wirklich Neuigkeiten gibt. Aber wenn es schon um Angst, Schmerz und Tod geht – und genau darum geht es in dieser Krise –, wieso sollen sich da nicht
die Dichter*innen dazu äussern, die sich ja schon immer Gedanken über diese Dinge gemacht haben? Aber es ist schon so, einerseits melden sich die Dichter*innen nicht, anderseits ist es auch das System, das sie eher am Rande hält. Denn es sind Stimmen, die nicht wirklich kontrollierbar sind, dissonante, nicht domestizierbare Stimmen. Man muss kein*e gewählte*r Politiker*in sein, um Politik zu machen, um sich zu Dingen äussern, die das Leben aller betreffen. Jedes Gedicht, egal in welcher Form, sollte das Leben aller betreffen. Gedichte sollten nicht nur für ein kleines Segment der Menschheit geschrieben werden.
FA: Auf jeden Fall, und die sozialen Medien helfen dabei. Ich kann am Morgen aufwachen und etwas über Covid oder die Umwelt schreiben, und ein paar Leute, vielleicht in Italien oder sogar auf der ganzen Welt, können mir folgen. Früher war das schwieriger, du musstest deinen Text an eine italienische Zeitung schicken. Es war jedoch unsicher, ob sie ihn publizieren würden, denn vielleicht widerspiegelte er nicht die Haltung der Zeitung. Publiziere ich etwas im Netz, erreiche ich mittlerweile eine grosse Anzahl Leser*innen. Klar ist das Netz sehr schnelllebig. Du postest etwas am Morgen, und am Abend ist es bereits veraltet. Dennoch nutze ich die sozialen Medien, um meine Gedichte und Texte, aber auch meine Gedanken zirkulieren zu lassen, das ist vielleicht meine Spezialität.
LP: Kannst du mir ein bisschen besser erklären, was du damit gemeint hast?
FA: Seit Ausbruch der Corona-Krise habe ich mich intensiv mit dem Thema beschäftigt und viele Texte publiziert. Ich hatte das Gefühl, es handle sich um ein ausserordentliches Ereignis, das Raum für Diskussionen schafft, über das Schicksal unserer Welt und die Art und Weise, wie wir uns in dieser Welt bewegen. Ich hatte gehofft, wir könnten die Situation nutzen, um wirkliche gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Nach letztem Sommer ist von dieser Diskussion oder Vision, die einige geführt und geteilt hatten, fast nichts mehr übrig geblieben ausser der Krankheit. Das Paradoxe an Tragödien ist ja, dass wir
uns durch sie oftmals lebendiger fühlen. Sie führen uns die Fragilität des Lebens vor Augen und geben uns die Chance, wenigstens für einen Moment, unser Leben wertzuschätzen und es tatsächlich in seiner Fülle zu leben. Jetzt scheint nur noch die Müdigkeit übrig geblieben zu sein. Die Krise dauert nun schon so lange, dass nicht mal die vielen Toten in Italien noch Eindruck machen.
Ausserdem ist es das erste Mal in der Geschichte der Menschheit, dass eine Pandemie auf das Internet trifft. Die Informationen sind allgegenwärtig, immer verfügbar. Man könnte neben der Pandemie schon fast von einer Infodemie sprechen, die von Politiker*innen, Mediziner*innen und Journalist*innen gefüttert wird. Das Narrativ ist jedoch sehr eng gefasst. Es geht um Zahlen, R-Werte, jetzt um die Impfrate. Es handelt sich um eine völlig neue Situation, mit der wir keine Erfahrung haben. Meiner Meinung nach hat die Art und Weise, wie die Krankheit sowohl auf der Informationsebene als auch auf der gesundheits- und sozialpolitischen Ebene angegangen wurde, Lösungen für einige Aspekte hervorgebracht, andere jedoch verschlimmert.
Ich weiss, mein Urteil ist sehr hart, aber ich habe das Gefühl, dass die Menschen in Italien, die uns durch diese Pandemie führen, der Aufgabe nicht wirklich gewachsen sind. Sie haben nicht den Weitblick oder die Einsicht, die es bräuchte, um die Menschen durch die Krise zu führen, ihnen Trost und neue Perspektiven zu schenken. Wenn so etwas Grosses wie diese Pandemie geschieht, sollten die besten Männer und Frauen aufgefordert werden, die Geschichte zu prägen und sie zu erzählen. Und dass dies nicht geschieht, bedaure ich sehr. Ich bin ehrlich gesagt besorgt über den seelischen und spirituellen Zustand der Menschheit.

Magazin KONTEXT
Dieser Artikel ist im KONTEXT #05 erschienen. Das Magazin erscheint zweimal jährlich rund um aktuelle Themen der psychischen Gesundheit. Möchten Sie das Magazin gratis erhalten? Werden Sie Mitglied im mental help club!