Positionspapier «No Force First»
02.03.2021
Mit Begegnung gegen Zwang
«No Force First»: Positionspapier der Deutschschweizer Sektion der Schweizerischen Gesellschaft für Sozialpsychiatrie (SGSP D-CH) zum Thema Reduktion von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie.
Gravierende Eingriffe in die Freiheitsrechte
Fürsorgerische Unterbringungen (FU), aggressives Verhalten und Zwangsmassnahmen sind Themen, mit denen sich nicht nur jede psychiatrische Versorgungsregion, jede psychiatrische Klinik und jede psychiatrische Station auseinandersetzen muss (S3-Leitlinie 2018), sondern auch jede/r Einzelne und die Gesellschaft.
Denn FU und Zwangsmassnahmen stellen gravierende Eingriffe in die grundrechtlich verankerten Freiheitsrechte der betroffenen Patient*innen dar (SAMW 2015).
Aus rechtlicher Sicht bewegen sich diese Interventionen bzw. Nicht-Interventionen zwischen den beiden extremen Polen von Freiheitsberaubung und unterlassener Hilfeleistung (Steinert et al. 2019).
Dabei gilt aus Sicht der Behandelnden, zwischen den zentralen Werten Patient*innenautonomie, Fürsorgepflicht, Schadensvermeidung und Gerechtigkeit abzuwägen (Beauchamp & Childress 2009; Hoff 2019), wobei unter Gerechtigkeit die faire Verteilung der vorhandenen Ressourcen verstanden wird.
Demgegenüber haben Patient*innen das Recht, nach guter fachlicher Information und unter Abwägung der Chancen und Risiken (informed consent / dissent) selbst über ihre weitere Behandlung zu entscheiden (Patient*innenautonomie).
Ethisches Dilemma
Ein ethisches Dilemma entsteht dann, wenn die Fähigkeit, eine autonome Entscheidung zu fällen, aufgrund einer psychischen Krise eingeschränkt ist und andere Personen der begründeten Meinung sind, dass den Patient*innen geholfen werden sollte (Fürsorgepflicht), indem eine Behandlung auch ohne Zustimmung oder sogar gegen ihren erklärten Willen erfolgt.
Wenn die unmittelbare Gefahr besteht, dass ein Mensch aufgrund einer psychischen Erkrankung sich selbst oder andere massiv schadet, so ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus im Rahmen einer FU möglich (Schadensvermeidung). Neben Medikamenten zur Behandlung und Ruhigstellung werden dort zum Selbst- und Fremdschutz als letztes Mittel (ultima ratio) auch Isolierungen oder Fixierungen eingesetzt.
In der Schweiz zeigen sich jedoch grosse kantonale Unterschiede bei der Anzahl der ausgesprochenen FU (OBSAN 2018). Die psychiatrischen Krankenhäuser wiederum unterscheiden sich hinsichtlich der Häufigkeit und Dauer der dort durchgeführten Isolierungen und Fixierungen (siehe: ANQ-Homepage). Diese bestehenden Unterschiede sind nicht zuletzt unter dem Aspekt der Gerechtigkeit und der Gleichbehandlung kritisch zu hinterfragen.
Reduktion von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie
Die SGSP D-CH setzt sich gemäss dem Best-Practice-Leitsatz «No Force First» (Ashcraft et al. 2012) für eine konsequente Reduktion von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie ein. Ganz allgemein sind Zwangs-massnahmen möglichst zu vermeiden. Auch fehlende Ressourcen dürfen keine ethische Rechtfertigung für Zwangsmassnahmen darstellen. Zugleich ist bekannt, dass eine mangelnde personelle Ausstattung die Wahrscheinlichkeit von Zwangsmassnahmen erhöht. Von grosser Bedeutung ist dabei die Beziehung zwischen Patient*innen und Fachpersonen, die gefördert werden soll, da durch eine achtsame und authentische Form der zwischenmenschlichen Begegnung (Heumann, et al., 2015) und durch Shared bzw. idealerweise Supported Decision Making (Heres & Hamann, 2017; James & Quirk, 2017) viele aggressive Entwicklungen, Eskalationen und Zwangsmassnahmen vermieden werden können.