Artikel aus KONTEXT #05
11.08.2021
«450 Franken und 14 Stunden Ihrer (Frei-)Zeit, die sich schnell amortisieren!»
Eltern wollen für ihre Kinder nur das Beste. Als Gesellschaft leisten wir uns ein Schulsystem, das Jugendliche aufs Leben vorbereiten soll. Unzählige Firmen bilden Lernende aus, um ihnen einen erfolgreichen Start in ein gelingendes Berufs- und Familienleben zu ermöglichen. Wenn alle, denen Jugendliche anvertraut sind – Eltern, Lehrer*innen, Berufsbildner*innen etc. –, mehr von psychischer Gesundheit verstehen würden und Erste Hilfe leisten könnten, würde dieser Startmehr jungen Menschen viel besser gelingen.
Die Schweiz darf stolz sein auf ihr (Berufs-)Bildungssystem. Wir investieren jährlich pro Schüler*in über 20 000 Franken in der obligatorischen Schule, etwa 25 000 Franken pro Lernende und etwa 35 000 pro Student*in. Insgesamt sind es rund 40 Mia. Franken pro Jahr – halb so viel, wie wir für die Gesundheit bezahlen. Knapp eine Million Kinder und Jugendliche besuchen die öffentlichen Schulen und werden dort von fast 100 000 Lehrpersonen unterrichtet.
Belastungen der psychischen Gesundheit gefährden den Erfolg
Um die psychische Gesundheit von Jugendlichen ist es nicht gut bestellt: 2018 berichtete jedes zweite Mädchen sowie jeder dritte Knabe über zwei psychische Beschwerden pro Woche (Health Behaviour of Schoolaged Children 2018). Wegen Corona geht es Jugendlichen und jungen Erwachsenen derzeit noch schlechter. 50% aller psychischen Erkrankungen beginnen vor dem 18. Altersjahr. Tragischerweise interpretieren die Erwachsenen, denen Jugendliche anvertraut sind, Symptome und Anzeichen einer psychischen Erkrankung häufig als «Pubertätsstörung» und hoffen, dass sich die Probleme «auswachsen». Dem ist leider in der Regel nicht so. Psychische Erkrankungen haben unbehandelt die Tendenz, sich zu verschlechtern und chronisch zu werden. Je später die Diagnose, desto schwieriger, langwieriger und teurer die Behandlung. Aber nicht nur das: Psychische Belastungen beeinträchtigen den Lernerfolg, führen zu schlechteren Noten, gefährden schulische Ziele. Je geringer der Schulerfolg, desto schwieriger der Start ins Berufsleben. Unbehandelte psychische Erkrankungen wirken sich auch negativ auf die Leistungen in der Berufslehre bzw. in weiterführenden Schulen aus. Viel zu häufig wird die psychische Erkrankung erst im jungen Erwachsenenalter diagnostiziert und behandelt – nachdem Ausbildung und Berufslehre massiv beeinträchtigt und im schlimmsten Fall gescheitert sind.
Dass dies nicht selten vorkommt, lässt sich an der steigenden Anzahl IV-Renten infolge psychischer Beeinträchtigung in der Altersgruppe der unter 30-Jährigen ablesen. Dabei handelt es sich aber nur um die Spitze des Eisbergs. Viel grösser ist die Zahl von Betroffenen, die zwar keine IV-Rente beziehen, deren Verwirklichung von Berufs- und Lebensträumen aber trotzdem eingeschränkt ist, weil sie ihr Ausbildungspotenzial nicht voll realisieren konnten. Gerade mit Blick auf den Fachkräftemangel sollten wir dafür sorgen, dass Chancen nicht vertan und Potenziale vollausgeschöpft werden.
Pflichtstoff psychische Gesundheit
Unser qualitativ hochstehendes und teures (Berufs-)Bildungssystem führt bei zu vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen nicht zur bestmöglichen Realisierung der Potenziale. Zu oft gelingt der Start in ein befriedigendes und erfüllendes (Berufs-)Leben nicht optimal. Wollen wir uns das wirklich leisten? Abhilfe zu schaffen wäre aus meiner Sicht recht einfach und wenig aufwendig: Alle Erwachsenen, denen Jugendliche anvertraut sind, müssten sich das Basiswissen zu psychischer Gesundheit aneignen und die fünf Schritte der Ersten Hilfe kennen und können. Das gilt besonders für Eltern mit Kindern, Lehrpersonen, Berufsbildner*innen etc.
Wer das Ressourcenmodell der psychischen Gesundheit kennt und verstanden hat, weiss, dass Belastungen normal sind und zum Leben gehören – gerade in der Jugend und während der Pubertät. Nicht jede Schwierigkeit ist ein Symptom einer psychischen Erkrankung, nicht jede*r Jugendliche braucht eine Therapie. Oft helfen ein offenes Ohr und einfühlsame Gespräche bereits, um die Belastung zu reduzieren. Wenn es den Erwachsenen gelingt, in der Familie, in der Schule, in der Lehre ein Klima der Offenheit zu schaffen, in dem psychische Belastungen nicht tabu sind und zu Ausgrenzung führen, sondern offen angesprochen werden können, dann ist ein wesentlicher Schritt getan.
Erste Hilfe kennen und können!
- «Der ensa Kurs hilft mir dabei, Symptome von Betroffenen zu erkennen und die Betroffenen aktiv darauf anzusprechen. Privat wie auch beruflich konnte ich bereits in den ersten Wochen nach dem Kurs sehr davon profitieren.» Jasmin Reinhard, Kursteilnehmerin
Dass es uns allen nützt, wenn alle, die auf der Strasse unterwegs sind, einen Nothelferkurs machen müssen, ist offensichtlich und unbestritten. Genauso offensichtlich ist es, dass alle, denen Jugendliche anvertraut sind, diesen Jugendlichen Erste Hilfe leisten können müssten. Im Gegensatz zur Ersten Hilfe auf der Strasse geht es bei der psychischen Gesundheit in der Regel nicht um Unfälle oder Krisen, sondern um sich langsam verschlechterndes psychisches Befinden. Bei Menschen, die uns nahestehen, «sehen» wir, wie es ihnen geht und ob es stimmt, wenn sie auf die Frage «Wie geht’s dir?» sagen: «Gut.» Wer die Technik der fünf Schritte der Ersten Hilfe für psychische Gesundheit kennt und geübt hat, fragt dann bei Nahestehenden nach, wie es wirklich geht, und bietet ein offenes Gespräch an. Solche Gespräche entlasten – werden sie früh geführt, wirken sie oft präventiv und verhindern eine psychische Erkrankung.
Magazin KONTEXT
Dieser Artikel ist im KONTEXT #05 erschienen. Das Magazin erscheint zweimal jährlich rund um aktuelle Themen der psychischen Gesundheit. Möchten Sie das Magazin gratis erhalten? Werden Sie Mitglied im mental help club!