Medienmitteilung: Positionspapier «Rechtebasierte Umsetzung der fürsorgerischen Unterbringungen»
21.11.2022
Qualitative Verbesserung der Praxis bei Zwangseinweisungen gefordert
In der Schweiz werden im Rahmen einer fürsorgerischen Unterbringung (FU) jährlich fast 16'000 Personen unfreiwillig in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Die hohen Fallzahlen sowie die zahlreichen teils erschütternden Berichte von Betroffenen veranlassten die Stiftung Pro Mente Sana aktiv zu werden. In einem neuen Positionspapier fordert sie eine qualitative Verbesserung der jetzigen Praxis bei der Anordnung fürsorgerischer Unterbringungen, mit einer fürsorgerischen Haltung und weniger Zwang.
Von einer fürsorgerischen Unterbringung (FU) spricht man, wenn eine Person gegen ihren Willen in eine Institution (psychiatrische Klinik, Rehabilitation oder psychiatrische Abteilung somatischer Spitäler) eingewiesen wird. Voraussetzung dafür ist, dass die Person an einer psychischen Störung oder an geistiger Beeinträchtigung leidet oder schwer verwahrlost ist und die nötige Behandlung oder Betreuung nicht anders erfolgen kann.
Eine solche Unterbringung stellt einen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheitsrechte einer Person dar. Obwohl das Gesetz vorsieht, dass eine FU nur als «allerletzte Möglichkeit» eingesetzt wird, werden Anordnungen einer FU hierzulande viel zu häufig ausgesprochen. Im europäischen Vergleich weist die Schweiz eine überdurchschnittlich hohe FU-Rate auf. Der Nutzen des Einsatzes von Zwangsmassnahmen ist unter Fachexpertinnen und -Experten stark umstritten. Fakt ist, dass Zwangseinweisungen sowohl von den Betroffenen oftmals als äusserst erniedrigend und verletzend empfunden werden und sich negativ auf deren Gesundheit auswirken können, aber auch für die involvierten Fachpersonen eine grosse Belastung darstellen.
Hohe Fallzahlen, unterschiedliche kantonale Handhabung
- Über 40 FU-Anordnungen werden in der Schweiz täglich ausgesprochen. Obsan, 2020, Fürsorgerische Unterbringung in Schweizer Psychiatrien | Obsan (admin.ch)
Über 40 Anordnungen werden in der Schweiz täglich ausgesprochen. Im Kanton Zürich allein landen täglich zehn Menschen unfreiwillig in einer psychiatrischen Klinik. Die unterschiedlich hohen FU-Raten in den Kantonen – von 0,72 in Appenzell Innerhoden bis zu 2,18* in Schaffhausen bei einem nationalen Durchschnitt von 1,8 pro 1000 Einwohner*innen vom Jahr 2020 – weisen auf die unterschiedliche Handhabung hin. Die Kantone verfügen über jeweils eigene Gesundheitsgesetze sowie einen gewissen Ermessensspielraum in der Anwendung. Auch ein Wohnsitz im urbanen Raum sowie die Einschätzung durch eine ärztliche Fachperson ohne Spezialisierung im Bereich Psychiatrie erhöht das Risiko für eine FU. Im Kanton Zürich beispielsweise kann jeder Arzt oder jede Ärztin mit einer Praxisbewilligung im Notfall eine fürsorgerische Unterbringung anordnen. Mit Blick auf die kantonalen Unterschiede scheint die Forderung nach einer einheitlichen FU-Praxis unabhängig von Wohnort einer betroffenen Person zentral.
Fünf Forderungen für eine verbesserte FU-Praxis
Im Zusammenhang mit der aktuellen Schweizer FU-Praxis setzt sich die Stiftung Pro Mente Sana für eine rechtsbasierte Umsetzung von fürsorgerischen Unterbringungen ein, die folgende Ziele verfolgt: eine verbesserte Qualität bei der Umsetzung von FU-Anordnungen sowie eine Reduktion der Anzahl FU-Verfügungen. Diese beiden Ziele wollen wir mit folgenden fünf Forderungen erreichen:
- Der Freiheitsentzug durch eine FU wird nur dann verfügt, wenn es effektiv keine Alternative gibt.
- Fachpersonen, die eine FU veranlassen können, sind zwingend qualifiziert und (re)zertifiziert.
- Wenn eine FU verfügt werden muss, wird in jedem Fall das Vier-Augen-Prinzip angewendet.
- Per FU eingewiesene Personen erhalten rechtliches Gehör und werden über ihre Rechte aufgeklärt, insbesondere über das Recht auf den Beizug einer Vertrauensperson und über ihre Beschwerdemöglichkeit.
- Nach jeder FU erfolgt zwingend eine Nachbesprechung mit allen beteiligten Personen.
Die Forderungen sind Teil unseres Positionspapiers, das von einer Arbeitsgruppe, bestehend aus Juristin*innen, Psychiatriefachpersonen, Politik- und Gesundheitswissenschaftler*innen sowie Betroffenenvertreter*innen erarbeitet wurde und sich an die zuständigen Stellen, wie die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde und Ärztinnen und Ärzte, sowie die Politik und die Öffentlichkeit, richtet. Mit den fünf Forderungen soll erreicht werden, dass eine FU, die im Sinne des Gesetzes gerechtfertigt ist und kompetent angeordnet wurde, tatsächlich mit einer «fürsorgerischen» Haltung umgesetzt wird.
Die Pro Mente Sana möchte mit dem FU-Positionspapier einen Diskurs anregen zur Praxis der Umsetzung und die involvierten Akteure mit weiteren Massnahmen sensibilisieren. Das Positionspapier wird in verschiedenen Gremien und Kommissionen vorgestellt und Anfang 2023 organisiert die Stiftung einen runden Tisch, an dem sie Fachpersonen, die im Rahmen einer FU involviert sind, Betroffene, Interessierte und politisch Verantwortliche zum Austausch und Dialog einlädt. Unser Ziel ist es, die Auseinandersetzung mit der FU-Thematik anzuregen und das Positionspapier möglichst breit abzustützen und so den Weg für die Umsetzung der Forderungen zu ebnen.
Medienmitteilung (PDF, 2 Seiten)
Positionspapier «Rechtebasierte Umsetzung der fürsorgerischen Unterbringungen» (PDF, 19 Seiten)