Recovery-Geschichte von Hans Schmied vom 23. Mai 2023
24.10.2024
Von Glückskugeln und Kichererbsen: die Wichtigkeit der Selbstreflexion
Hans Schmied beschreibt, wie Selbstfürsorge und Selbstreflexion helfen, die Grenzen der eigenen Belastbarkeit frühzeitig zu erkennen – sowohl bei Long Covid als auch bei psychischen Erkrankungen. Der Autor teilt praktische Methoden, wie den "Kichererbsen-Trick", um Überforderung zu vermeiden und gezielt auf Warnsignale zu reagieren. So wird deutlich, wie wichtig Achtsamkeit und das Bewusstsein für die eigenen Ressourcen sind, um körperliche und psychische Rückschläge aktiv zu verhindern.
Mit Selbstfürsorge und Selbstreflexion Frühwarnzeichen einer möglichen Grenzüberschreitung erkennen und somit Crashs aktiv verhindern.
(Anmerkung der Redaktion: In Verbindung mit Long Covid bezeichnet ein Crash die Verschlimmerung der Krankheit-Symptome nach einer körperlichen, geistigen oder emotionalen Anstrengung. Eine andere Bezeichnung dafür ist Post Exertional Malaise, kurz PEM)
Das Telefon hatte schon einige Male geklingelt, als ich den Hörer etwas atemlos ergriff und antwortete. Ich war gerade sehr beschäftigt gewesen, da ich die letzten zwei Tage an der Swiss Handicap Messe in Luzern zwei Kurzreferate über Depressionen halten durfte. Als Präsident des Vereins «GLEICH UND ANDERS Schweiz», welcher die Förderung der psychischen Gesundheit aller bezweckt und unterstützt, bin ich ein gefragter Mann.
Nebenbei arbeite ich noch 40% als Peer-Mitarbeiter. Darunter versteht man Menschen, die sich von einer psychischen Erkrankung erholt haben und durch ihre Erfahrungen nun anderen Betroffenen helfen. Ich war schon immer ein vielbeschäftigter und leistungsorientierter Mensch und führte so unter anderem auch mein eigenes Hotel mit 22 Mitarbeitern, bevor mich ein schwerer, unverschuldeter Verkehrsunfall jäh aus dem Hier und Jetzt riss.
Der Körper erholte sich vom Unfall und die Wunden verheilten. Doch die Psyche hatte von da an mit einer schweren Depression zu kämpfen, die sich in eine posttraumatische (PTBS) wandelte. Eine PTBS kann sich direkt nach einem einschneidenden Ereignis, manchmal auch erst Jahre später, entwickeln. Meine PTBS zeigte sich bei mir folgendermassen: Ich zog mich zurück, war desinteressiert, fühlte mich fremd in meinem eigenen Leben, verdrängte das belastende Ereignis.
Es begann ein körperlich sehr anspruchsvoller Weg
- „Die Erkenntnis und das Bewusstsein, nicht der Einzige zu sein, war dabei sehr wertvoll.“
Im Januar 2021 erfuhr ich dann von meiner COVID-19 Infektion. Es sollte ein langer und vor allem harter Weg werden – einmal mehr! Ich verbrachte 21 Tage in der Isolation, erlitt eine Lungenembolie und musste schlussendlich im Spital mit Sauerstoff versorgt werden. Heute bin ich glücklich darüber, dass ich nicht intubiert wurde. Ich erholte mich langsam. Obwohl ich unter anderem immer noch mit Fatigue zu kämpfen hatte, war mein Kopf stärker und so begann ich viel zu früh wieder zu arbeiten. Der Start in die Arbeitswelt nach meiner COVID-Infektion schien vorerst geglückt und die PTBS-Symptome hatte ich einigermassen im Griff. Knapp 10 Monate später, Ende November 2021, kam dann aber der grosse Crash, bei welchem nichts mehr ging.
Aufgrund der Symptomatik wurde erst ein Burnout vermutet. Untersuchungen beim Spezialisten zeigten dann aber eine Lungenunterfunktion im linken Lungenflügel, welche durch Corona hervorgerufen wurde. Mit der Diagnose Long-COVID mit Fatigue und Depression wurde ich daraufhin in die Klinik Barmelweid eingeliefert.
Der Aufenthalt in der Klinik Barmelweid hat mich Schritt für Schritt wieder ins Leben zurückgebracht. Nebst einer Long COVID Sprechstunde, besuchte ich auch Gruppenstunden für Psychoedukation oder war Teil einer Gruppe, die sich mit den Empfindungen Angst und Panik auseinandersetzte. Meine psychosomatischen Beschwerden wurden mit kreativen Ansätzen angegangen und so besuchte ich Maltherapien oder war in der Ergotherapie anzutreffen. Die Erkenntnis und das Bewusstsein, nicht der Einzige zu sein, war dabei sehr wertvoll.
Mit Hilfe von Kichererbsen zur Resilienz
Während der Therapien in der Klinik übte ich mich zusätzlich in Selbstreflexion und Selbstfürsorge, um für mehr Resilienz in meinem Alltag zu sorgen. Um dies zu erreichen, eignete ich mir den Trick mit den 10 Kichererbsen an, welcher ich auch heute noch erfolgreich einsetze. 10 Kichererbsen, die mich täglich ermahnen, wie wichtig es ist, seine eigenen Grenzen zu kennen und zu wissen, wie es sich verhindern lässt, diese Grenzen zu überschreiten.
Der Trick mit den 10 Kichererbsen oder «die Glückskugeln»
Meine «Glückskugeln», respektive die 10 Kichererbsen trage ich jeden Tag in meiner linken Hosentasche. Diese sollen mir bei Grenzüberschreitungen als Hilfsmittel dienen. Wenn ich merke, dass ich mich in einer Situation verausgabe und an meine Grenzen gekommen bin, lege ich eine Kichererbse von der linken in die rechte Hosentasche.
Am Abend zähle ich die jeweiligen Kichererbsen in der linken und rechten Hosentasche und lasse den Tag dann jeweils in Ruhe noch einmal Revue passieren. Dies gibt mir Zeit, die «besonderen Ereignisse», respektive die Situation, in welcher ich «übertrieben» habe zu analysieren. Dabei überlege ich mir, wieso ich die Kichererbse von der einen in die andere Hosentasche wechselte. Somit kann ich das Pacing oder die Energiereserve für ein erneutes Auftreten dieser spezifischen Situation genauer planen.
(Anmerkung der Redaktion: Pacing ist eine Aktivitätsmanagementtechnik bei Chronischem Fatigue-Syndrom, welches bei Long Covid gehäuft auftritt. Das Ziel von Pacing ist, alle Aktivitäten den verringerten Energieressourcen der Betroffenen anzupassen, um Überbelastung und weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu verhindern.)
Die Wichtigkeit von Selbstreflexion und Selbstfürsorge
Ich kenne die Fatigue mittlerweile sehr gut und bin davon überzeugt, dass wenn ich diesen Frühwarnzeichen keine Achtsamkeit schenke, der nächste Crash nicht lange auf sich warten lässt. Ich arbeite heute als Peer-Mitarbeiter mit einem 40%-Pensum und stosse dabei immer wieder mal an meine Grenzen. Zusätzlich trage ich mit den Patienten eine grosse Verantwortung, sodass ich mich immer wieder zu Pausen zwingen muss oder vom Chefarzt persönlich darauf aufmerksam gemacht werde. Und wenn das alles nichts nützt, wandert eine Kichererbse von der linken in die rechte Hosentasche und erinnert mich einmal mehr an die Wichtigkeit der Selbstführsorge und der Selbstreflexion in meinem Alltag.
GLEICH UND ANDERS Schweiz
Heinz Schmied ist Präsident des Vereins «GLEICH UND ANDERS Schweiz» Der Verein GLEICH UND ANDERS Schweiz.ch fördert die psychische Gesundheit im Allgemeinen und engagiert sich in der Prävention und Integration deren. Zudem unterstützen sie Menschen mit psychischen Erkrankungen.
+41 (0)79 779 97 18
info@gleichundandersschweiz.ch