Blick hinter die Kulisse

24.10.2024

Mit dem Herzen sehen: Reto's Küche im Nordliecht

Im Treffpunkt Nordliecht in Zürich kocht Reto Frey mit Leidenschaft für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen. Er zaubert köstliche Gerichte und beeindruckt durch sein Können und seine positive Einstellung. Ein Einblick in sein Leben mit Sehbehinderung, seine Geschichte und seine Arbeit im Nordliecht.

Reto Frey im alten Nordliecht Standort in Zürich Wipkingen

Mit seinem markanten Auftritt in Kochschürze, Stahlkappenschuhen und Schiffchen-Mütze, trägt er stolz das Label «Blind Chefs» auf seiner Schürze. Seine Leidenschaft für das Kochen ist sofort spürbar. «Mein Leben dreht sich stark ums Essen. Ich koche wahnsinnig gerne und esse vor allem sehr gerne!», sagt Reto Frey. Schon als Kind entdeckte Reto seine Liebe zum Kochen: «Meine Eltern waren geschieden. Meine Mutter ging arbeiten und mein Vater war nicht da. So fing ich an, mein Mittagessen zu kochen. Es lag einfach auf der Hand, dass ich Koch werden würde. Mit 16 habe eine Kochlehre in einem Gault-Millau-Restaurant begonnen.»

Nach der Lehre ging Reto seinem erlernten Beruf nach. Zuerst im Militär, wo er später die Fourier-Schule machte. Danach folgen Jobs beim Zürcher Gastro-Riesen Bindella, bei der Weinhandlung Delinat, ein dreijähriger Auslandaufenthalt in Singapur, wo er sich auf die asiatische Küche spezialisiert, eine Weiterbildung in Betriebsökonomie und die Gründung einer Marketing-Firma. Trotz seines beruflichen Erfolgs kämpfte Reto mit psychischen Krisen. Bei einem Suizidversuch erlitt er schwere Kopfverletzungen und verlor den Grossteil seines Sehvermögens.

Der Weg zurück in die Küche

In der Reha lernte Reto wieder zu gehen und zu sprechen. Der Verlust seiner Sehkraft war eine grosse Herausforderung. Ihm blieb nur lediglich 3% Sehkraft. Nach einer schwierigen Zeit in der Reha, kam er im Wohnheim der Stiftung Mühlehalde endlich wieder zum Kochen. Das Kochen half ihm, sich auf das Leben als sehbehinderter Mensch vorzubereiten. Im Bildungs- und Begegnungszentrum (BBZ) des Schweizerischen Blindenverbands (SBV) in Dietikon hat Reto definitiv zu seiner Berufung zurückgefunden. Während sieben Jahren kochte er dort für 20 bis 40 Besucher*innen am Tag. «Nach der Zeit im BBZ hatte ich Lust auf etwas Neues. Im Oktober 2020 meldete ich mich beim Treffpunkt Nordliecht und durfte sofort anfangen zu kochen.»

Im Nordliecht gefällt ihm die familiäre und offene Atmosphäre: «Der Umgang untereinander ist respektvoll und die Besucher*innen erzählen von sich und ihren Problemen. Dass man so offen gegenüber anderen sein kann, war neu für mich. Das schafft Nähe», sagt er. Reto betont, wie wichtig es ist, über psychische Probleme zu sprechen, da dieses Thema oft tabuisiert wird. Früher hat er seine Sorgen überspielt und sich keine Hilfe gesucht, aus Angst, sein Gesicht zu verlieren.

  • «Ich habe mir keine Hilfe gesucht, denn ich hatte Angst, mein Gesicht zu verlieren.» Reto Frey, Nordliecht-Koch

Die Krise als Chance 

Reto findet, dass seine Lebenskrise auch Positives gebracht habe. «Die grösste Veränderung für mich ist, dass ich viel ruhiger geworden bin. Früher war ich ein ‹Hans dampf in allen Gassen›. Ich habe zehn Sachen gleichzeitig angefangen. Heute geht das nicht mehr, ich muss auf etwas fokussieren. Es geht mir viel besser als vor zehn Jahren!» Sein Leben heute sei recht einfach. Er sei viel zu Hause und treibe regelmässig Sport. «Ich habe eine Hand voll gute Freunde, die ich regelmässig treffe, das ist ein Glück! Oft lade ich Freunde oder meine Nachbarin zu mir nach Hause zum Essen ein. Für mich allein koche ich aber selten.» Inspiration für neue Rezepte holt sich Reto im Internet und im Restaurant. Früher sei er regelmässig auswärts essen gegangen. Aber das liege heute aus Budgetgründen nur noch selten drin. Reto findet das nicht schlimm: «Ich esse lieber einmal gut auswärts als zehnmal mittelmässig.»

Berührungsängste

Auf der Beziehungsebene sei es jedoch nicht immer einfach. Oftmals merke er, dass ihn die Leute komisch anschauen, wenn er mit seinem Blindenstock einen Raum betrete. Auch wenn er dies nicht sehen könne, spüre er die Blicke. Das sei irritierend. Reto wünschte sich, dass mit Menschen mit einer Behinderung ungezwungener umgegangen würde. «Ich erinnere mich, als mich eine Person, die mich von früher kannte, in einer Bar mit ‹Reto, bisch du das?› ansprach. Das war nach langer Zeit das erste Mal, dass jemand auf mich zu kam und mit mir redete. Ich denke, das Problem ist, dass alle Angst vor behinderten und beeinträchtigten Menschen haben – auch vor blinden Menschen.» Wenn es jedoch um konkrete Hilfe gehe, scheinen die Berührungsängste kleiner. Auf der Strasse werde er von vielen Personen – oftmals von Frauen – angesprochen und gefragt, ob er Unterstützung brauche.

  • «Manchmal wünschen die Besucher*innen ein bestimmtes Menü. Wenn es drin liegt, erfülle ich die Wünsche gerne.» Reto Frey, Nordliecht-Koch

Kreativität in der Küche

Vor Ort im Nordliecht hantiert Reto in der Küche. Er weiss genau, in welcher Schublade sich was befindet. Wenn man es nicht wüsste, würde man nicht merken, dass er nichts sieht. Reto hat bereits ein Rezept im Kopf: «Beim Kochen experimentiere ich gerne und dichte eigene Sachen hinzu. Manche Menüs koche ich das erste Mal im Nordliecht», sagt er fröhlich. Wenn man die Grundregeln des Kochens einmal gelernt habe, könne man eigentlich alles kochen, findet er.

Die Menüplanung machen die Nordliecht-Mitarbeitenden gemeinsam. Bei der Gemüsewahl achtet Reto vor allem auf die Saison. «Manchmal wünschen die Besucher*innen ein bestimmtes Menü. Wenn es drin liegt, erfülle ich die Wünsche gerne. Ich habe schon vieles ausprobiert und bin offen für Neues. ‹Grusig› finde ich eigentlich nur Blutwürste, Hirn und Schnecken. Das kommt mir nicht auf den Tisch!»

«Heidi», die sprechende Küchenhilfe

Was ist Retos grösste Herausforderung in der Küche? «Das Anrichten ist das Schwierigste. Dafür brauche ich Hilfe. Alles andere funktioniert auch allein. Aber in der Küche hat man schnell mal etwas umgeworfen – auch wenn man sehen kann. Manche Leute sagen zwar, dass sich die anderen Sinne schärfen, wenn man erblindet. Aber ich weiss nicht, ob das stimmt. Mein Geschmacks- und mein Geruchssinn waren schon immer gut. Ich denke, dass man sich verstärkt auf die anderen Sinne konzentriert, wenn man einen weniger hat. Ich bin einfach etwas vorsichtiger geworden», erzählt Reto. Zudem gäbe es gute Hilfsmittel, wie die sprechende Küchenwaage «Heidi».

Die Dankbarkeit ist spürbar

Die Besucher*innen des Nordliechts schätzen Reto als Person und Koch. Reto isst nach getaner Arbeit meistens mit den Besucher*innen und unterhält sich mit ihnen. Dabei hört man sie häufig «sehr guet gsi» und «merci vielmal» sagen. Einige Besucher*innen verabschieden sich jeweils nach dem Essen, andere bleiben noch sitzen und lassen den Abend bei Gesprächen oder einem Spiel im Nordliecht ausklingen.

Rezept - Pasta al Reto

Zutaten für 4 Personen:

200—300 g Pasta nach Wahl, z.B. Fusilli

2 Zehen Knoblauch

1 Zucchetti

1 Aubergine

Olivenöl

1 Zitrone

2 EL Tomatenmark

1/2 Glas Pesto Genovese

2 Handvoll Rucola

Parmesan


Zubereitung:

  1. Knoblauch schälen und zerdrücken
  2. Zucchetti und Auberginen in kleine Würfel schneiden
  3. Zerdrückten Knoblauch in Olivenöl andünsten
  4. Zucchetti- und Auberginenwürfel beigeben, ca. 5 Minuten köcheln lassen
  5. Zitronen-Abrieb beigeben
  6. Tomatenmark und Pesto Genovese beifügen
  7. In der Zwischenzeit Fusilli im Salzwasser al dente kochen. Eine Minute, bevor die Fusilli fertig sind, Ruccola beifügen und mitblanchieren
  8. Eine Suppenkelle vom Fusilli-Kochwasser der Sauce beifügen
  9. Dann Pastawasser abgiessen
  10. Fusilli und Sauce mischen
  11. Mit Parmesan servieren

Der Verein Blind Chefs

Neben seiner Tätigkeit im Nordliecht hat Reto den Verein «Blind Chefs» gegründet, der zweimal jährlich Feinschmecker-Events organisiert. Dort zaubert er mit seinem Team Viergang-Menüs zu verschiedenen kulinarischen Themen. Für mehr Informationen und Anmeldungen schreiben Sie an blindchefs@gmail.com