Recovery-Geschichte von Ladina Bosshard vom 19. April 2023
24.10.2024
Meine Recovery Geschichte
Schon früh hatte sie das Gefühl, anders zu sein. Nachdem sie die ersten Panikattacken erlebte, begann ein langer Weg durch Angst, Zwangshandlungen und tiefe Verzweiflung. Schwierige Jahren mit vielen Klinikaufenthalten und der Suche nach einem Weg aus der Dunkelheit folgten. Nach einer Zwangseinweisung kam der Wendepunkt: Das konnte nicht ihr Leben sein. Sie kämpfte sich heraus. Heute blickt sie auf ihren Weg zurück – stolz und voller Hoffnung.
Wenn ich zurückdenke, dann habe ich mich schon immer irgendwie falsch in dieser Welt gefühlt. Ich fand nicht lustig, was andere lustig fanden und hatte Schwierigkeiten mit Dingen, die für andere Menschen eine Alltäglichkeit waren. Weil ich angenommen werden wollte, habe ich angefangen, mich anzupassen und so zu sein, wie die Gesellschaft es von mir erwartet. Ich habe gelacht, wenn andere gelacht haben und geweint, wenn andere geweint haben. Ich bin zur Schule gegangen, habe meine Hobbys verfolgt und versucht Freundschaften zu knüpfen – und dabei war ich letzten Endes nie ich selbst. Heute weiss ich, dass sich dieses Verhalten «Masking» nennt. Und ich weiss auch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis ich die Fassade nicht mehr aufrecht halten konnte.
Es begann als ich 11 Jahre alt war. Da wurde mein Grosspapi schwer krank und ich erlebte mit, wie er immer schwächer wurde. Seine Krankheit brachte Veränderungen und Unsicherheiten in mein Leben, mit denen ich nicht umgehen konnte und so zeigten sich die ersten Symptome meiner Erkrankungen.

Kurz nach seinem Tod erlebte ich im zarten Alter von zwölf Jahren die erste Panikattacke. Ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen und dachte, ich müsse jetzt wie mein Grosspapi sterben. Meine Mutter ging daraufhin mit mir zum Kinderarzt. Er untersuchte meine Lunge und stellte fest, dass ich körperlich gesund war. Was er aber nicht sah, war, dass meine Psyche Risse aufwies, die in der Folge immer grösser werden sollten.
Meine erste Panikattacke sollte kein einmaliges Ereignis bleiben. Ich entwickelte neu eine Hypochondrie, eine übermässige Angst vor Krankheiten, und steigerte mich von einem Krankheitsbild ins nächste. Das ging jeweils so weit, dass ich körperlich alle Symptome meiner vermeintlichen Krankheit verspürte. Dazu gesellten sich Zwangsgedanken und -handlungen, die sich bei mir in Form von übermässigem Händewaschen zeigten. So manifestierten sich über die Zeit die Symptome meiner Angst- und Zwangserkrankung. Bis ich mit frischen 15 Jahren wieder bei meinem Kinderarzt sass und ihm alles erzählte. Ich ging davon aus, dass er mir bestätigt, dass ich eine schwere körperliche Erkrankung habe, Krebs zum Beispiel. Stattdessen überwies er mich zu einer Psychotherapeutin und ich begann die erste Therapie meines Lebens. Ich war empört darüber. Zu der Zeit war ich der festen Überzeugung, körperlich krank zu sein und hatte keine Krankheitseinsicht. Deshalb brach ich die Therapie nach etwas mehr als einem Jahr ab.
Danach ging es mir aber nicht besser. Im Gegenteil: Mein psychischer Zustand verschlechterte sich immer mehr. Mit der Zeit sah ich aber ein, dass ich doch psychotherapeutische Hilfe brauchte und startete erneut eine Therapie.
Zwei Therapeutinnen später war ich 19 Jahre alt und immer noch krank. Die ambulante Therapie hielt mich zwar über Wasser, aber sie erreichte nie den Kern. Mein Zustand verschlechterte sich und als dann auch noch die Corona-Pandemie begann, brach ich endgültig zusammen. Und so begann die härteste Zeit meines Lebens. Ich lebte 1.5 Jahre lang von Klinikaufenthalt zu Klinikaufenthalt. Ich war zweimal für mehrere Monate auf Therapiestationen und dazwischen immer wieder auf offenen und geschlossenen Akutstationen.
Zu der Zeit dachte ich wirklich, ich würde es nicht mehr lebendig aus meinen Erkrankungen herausschaffen. Ich war müde vom jahrelangen Kämpfen und entwickelte Suizidgedanken. Jeder Aufenthalt brachte neue Diagnosen mit sich und ich wusste irgendwann nicht mehr, wer ich als Mensch überhaupt bin. Ich war nicht mehr Ladina. Ich war Fallnummer XY mit Diagnosen F45.2, F42.2, F41.0 und weitere Zahlenkombinationen, die mich in eine Schublade steckten, in die ich nicht gehören wollte.
Der Wendepunkt war für mich als ich 2021 zwangsmässig in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen wurde. Ich sass dort auf einer Fensterbank, habe durch die vergitterten Scheiben geschaut und mir gedacht: «Das kann nicht mein Leben sein! Das darf nicht mein Leben sein! Ich gehöre hier nicht hin!»
- «Ich habe mir überlegt, welche Ziele ich im Leben habe und wie ich die erreichen kann.»
Ab da habe ich noch stärker gekämpft als ohnehin schon. Ich habe mich viel mit mir, meinen Gedanken und meinen Gefühlen auseinandergesetzt. Das war oft schmerzhaft, aber es war nötig, um an einen Punkt von Selbstakzeptanz zu gelangen. Ich habe mir überlegt, welche Ziele ich im Leben habe und wie ich die erreichen kann. Ich habe jeden Tag alles gegeben, um ein Leben zurückzubekommen, das es sich zu leben lohnt. Ich habe angefangen, auf Instagram aktiv von meinem Genesungsweg zu erzählen. Dies, um einen Austausch mit anderen Betroffenen zu finden und um meine Geschichte zu verarbeiten. So habe ich gemerkt, dass ich nicht allein bin und dass andere Menschen mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. Das hat so gutgetan.
Heute bin ich 22 Jahre alt und blicke auf eine schwere Zeit zurück, die mit Ängsten, Hoffnungslosigkeit und Leid gefüllt ist. Aber ich blicke mit Stolz zurück. Ich habe auch heute noch mit meinen Erkrankungen zu kämpfen – mal mehr, mal weniger. Aber das ist okay, weil mein Leben trotz allem wieder lebenswert ist.
Wenn ich anderen Betroffenen nur eine Sache sagen darf, dann ist es das: «Ich weiss, dass es sich gerade nicht so anfühlt, aber ich verspreche dir, dass es sich lohnen wird, nicht aufzugeben.» Ich habe die Floskel «Es wird wieder besser» auch nie geglaubt. Vor allem nicht, wenn sie mir in einem Nebensatz von Ärzt*innen entgegengeworfen wurde. Aber ich stehe hier und kann aus Erfahrung sagen, dass es stimmt. Ich habe es erlebt.
Ich hatte Unterstützung auf diesem Weg. Ich habe von verschiedenen Therapien und von Gesprächen mit Fachpersonen profitiert. Ich hatte Hilfe von meinem Umfeld. Aber letzten Endes war es ich allein, die sich da rausgekämpft hat. Es war mein Wille auf Besserung. Es war mein Wille zu leben.
Auch du musst da nicht alleine durch. Du darfst und sollst Hilfe in Anspruch nehmen. Aber ohne dass du selbst etwas dazu beiträgst, wirst du nicht wieder gesund. Das mag eine harte Aussage sein, die Druck auslösen kann. Es ist aber auch eine, die Mut machen kann. Sie es mal so: Auch wenn du dich hilflos fühlst, du bist es nicht. Du kannst aktiv etwas zu deiner Genesung beitragen und zwar Hilfe holen.
Zum Schluss möchte ich nochmal auf das Anderssein zurückzukommen, das ich in meiner Einleitung beschrieben habe. Mittlerweile weiss ich, dass dieses Gefühl daher kommt, dass ich Autistin bin.
Die Diagnose habe ich erst letztes Jahr bekommen und sie war eine riesige Erleichterung. Endlich weiss ich, was an mir anders ist. Momentan arbeite ich daran, meine autistischen Merkmale zu akzeptieren und mir zu sagen, dass ich gut und richtig bin, so wie ich bin.
Auch das ist ein langer Prozess. Gerade wenn man sich wie ich jahrelang die Schuld für das eigene Anderssein gegeben hat. Aber ich spüre, dass ich auf einem guten Weg bin. Weil ich weiss, was ich in meinem Leben schon durchgestanden habe und wie stark ich dementsprechend bin.
Ladina Bosshard studiert an der Universität Zürich Germanistik und Skandinavistik. In ihrer Freizeit ist es ihr ein grosses Anliegen, sich für die Entstigmatisierung von psychischen Erkrankungen einzusetzen. Dies tut sie auf ihrem Instagram Account @mein.konfetti.regen sowie als Ambassador im Verein Zeta Movement.