Interview zum Thema Zwangsmassnahmen
13.01.2025
«Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit.»
Nadia Pernollet, Fachverantwortung Psychosoziales bei Pro Mente Sana, erläutert im Interview die verschiedenen Formen von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie, deren häufige Anwendung in der Schweiz und die Auswirkungen auf die betroffenen Personen. Sie plädiert für die Grundhaltung einer Psychiatrie ohne Zwang und zeigt auf, dass es dazu institutionelle, gesellschaftliche und politische Veränderungen braucht.
Was genau sind Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie? Welche Formen gibt es und wie unterscheiden sie sich?
Nadia Pernollet: Zwangsmassnahmen sind alle Interventionen, die gegen den Willen der Patientinnen und Patienten durchgeführt werden. In der Psychiatrie gibt es verschiedene Formen von Zwangsmassnahmen:
- Zwangsmedikation: Die Verabreichung von Medikamenten gegen den Willen der betroffenen Person.
- Isolation: Das Einsperren einer Person in einen abgeschlossenen Raum, um den Kontakt zu anderen zu verhindern.
- Fixierung: Das physische Festbinden der Person mit Gurten an einem Bett oder Stuhl, um Bewegung zu verhindern.
- Informeller Zwang: Dies umfasst subtile Formen des Drucks, z.B. wenn die Person verbal unter Druck gesetzt wird, Medikamente einzunehmen oder anderen Massnahmen zuzustimmen.
Kommen Zwangsmassnahmen in der Schweiz häufig vor?
Nadia Pernollet: Leider ja. Die Vergleichsberichte des Nationalen Vereins für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken zeigen ein schockierendes Bild. Gesamthaft haben 2022 8.8 % der Patientinnen und Patienten der Erwachsenenpsychiatrie in der Schweiz eine Zwangsmassnahme erlebt. Das bedeutet, es wurde 36’455 Mal eine Zwangsmassnahme angewendet.
Auch in unserer Beratung von Betroffenen und Fachleuten sind Zwangsmassnahmen ein Thema. 2023 berieten wir in der juristischen Beratung über 200 Mal zum Thema Zwangseinweisung (fürsorgerische Unterbringung) und rund 70 Mal zum Thema Zwangsmassnahmen.
Ein weiteres Thema ist der sogenannte informelle Zwang. Hierbei werden Patientinnen und Patienten indirekt gezwungen, etwas zu tun, was sie eigentlich nicht wollen. So wird beispielsweise die Medikamenteneinnahme durch Belohnung, wie mehr Ausgang, oder negative Konsequenzen forciert. Diese Massnahmen werden in Statistiken nicht als Zwang erfasst, für die Betroffenen fühlen sie sich aber oft genauso an. Grundsätzlich stellen wir fest, dass Medikamente immer noch einen zentralen Stellenwert in der Behandlung einnehmen und wenig Alternativen geboten werden.
Unabhängig von der individuellen Situation hat jeder Mensch das Recht auf Würde und Autonomie – und dieses Recht ist auch in der Schweizer Verfassung niedergeschrieben.
Wo siehst du die grössten Probleme bei Massnahmen wie Isolation, Fixierung und unfreiwilliger Medikation?
Nadia Pernollet: Zwangsmassnahmen greifen stark in die persönlichen Freiheiten ein und werden von den Betroffenen oft als traumatisch empfunden. Unabhängig von der individuellen Situation hat jeder Mensch das Recht auf Würde und Autonomie – und dieses Recht ist auch in der Schweizer Verfassung niedergeschrieben. Artikel 10 Absatz 2 der Bundesverfassung garantiert die körperliche und geistige Unversehrtheit sowie die Bewegungsfreiheit.
Zwangsbehandlungen sind in Fachkreisen umstritten und sind ausserdem deutlich ressourcenintensiver, als wenn die Therapie mit Einverständnis der Betroffenen durchgeführt wird. Es sollte im Interesse aller sein, dass Behandlungen gemeinsam abgesprochen werden. Um Zwangsmassnahmen zu vermeiden, ist jedoch eine Haltungsanpassung ausschlaggebend: Personenzentrierte und recovery-orientierte Arbeitsweise, niederschwellige, ambulante und aufsuchende Angebote und Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung und bei den involvierten Playern sind dabei essenziell. Wichtige Hinweise für die Prävention von freiheitsbeschränkenden Massnahmen in der Psychiatrie gibt auch die Empfehlung der SGPP.
Ist eine Psychiatrie ohne Zwang möglich?
Nadia Pernollet: Die kurze Antwort lautet "Ja": Die WHO hat in ihren Leitlinien für gemeindenahe psychische Gesundheit (2021) zahlreiche internationale Beispiele dokumentiert, in denen kaum oder gar keine Zwangsmassnahmen angewendet werden. Auch in der Schweiz gibt es Vorreiter, wie die Soteria in Bern, die es auf die internationale Liste der WHO geschafft hat. Der Ansatz einer Psychiatrie ohne Zwang – oft als „Zero Coercion“ bezeichnet – ist also nicht nur möglich, sondern er wird bereits erfolgreich umgesetzt.
In der Schweiz sieht das geltende Recht als Ultima Ratio jedoch Zwangsmassnahmen vor. Die Realität ist, dass sie auch angewendet werden und leider nicht immer nur als "Ultima Ratio". Obwohl Pro Mente Sana die Grundhaltung vertritt, dass Psychiatrie ohne Zwang funktionieren sollte, anerkennen wir, dass die aktuelle Realität in der Schweiz diese Massnahme als Ultima Ratio erlaubt. Deshalb fokussiert unsere Stiftung in einem ersten Schritt darauf, dass diese verbessert wird. Ein Beispiel ist unser Pilotprojekt "Vertrauenspersonen bei fürsorgerischen Unterbringungen". Die Vertrauenspersonen bieten Unterstützung auf individueller Ebene. Sie fördern Autonomie der Patientinnen und Patienten, indem sie dieselben unterstützen, ihre Rechte in psychiatrischen Einrichtungen einzufordern. Für eine Psychiatrie ohne Zwang braucht es grosse Veränderungen auf verschiedenen Ebenen: der institutionelles, gesellschaftliches und politischen. Bei all unserem Engagement orientieren wir uns an den Leitlinien der WHO und der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK). Beide fokussieren sich auf den Schutz der Rechte von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen, insbesondere auf die Förderung der Selbstbestimmung.