13.01.2025
Fürsorgerische Unterbringung: Für mehr Gerechtigkeit und systemische Verbesserungen
Wer aufgrund einer fürsorgerischen Unterbringung (FU) in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird, erlebt einen schwerwiegenden Eingriff in seine Grundrechte. Jährlich sind in der Schweiz mehrere Tausend Menschen betroffen. Der Akt einer Zwangseinweisung ist erschütternd, unabhängig davon, wie lange der Aufenthalt in der Institution dauert. Pro Mente Sana setzt sich daher für eine Verbesserung dieser aktuell prekären Situation ein.
Die gesetzlichen Grundlagen sehen vor, dass eine FU nur in Fällen eines Schwächezustandes und einer akuten Selbstgefährdung erfolgen darf und nur, wenn keine milderen Alternativen bestehen. Doch in der Realität führen oft Zeitdruck, fehlende Alternativen im ambulanten Bereich und Unsicherheiten bei den Fachpersonen zu einer vorschnellen oder unnötigen Zwangseinweisung. Ausserdem gibt es kantonale Unterschiede, die Auswirkungen auf die Anwendung der FU haben. So variiert nicht nur die FU-Rate von Kanton zu Kanton, sondern auch die Anforderungen an die Fachpersonen, die eine FU anordnen dürfen. Die Befugnis zur Anordnung einer fürsorgerischen Unterbringung (FU) wurde beispielsweise im Kanton Genf mit der Einführung des neuen Erwachsenenschutzrechts am 1. Januar 2013 auf psychiatrische Ärztinnen und Ärzte beschränkt. Diese Änderung führte dazu, dass die Massnahme der FU weniger häufig eingesetzt wurde. Im Kanton Basel-Stadt gibt es ein Modell, nach dem nur eine kleine Gruppe von aktuell 10 Amtsärzt*innen einen FU anordnen dürfen. Zum Vergleich: Im Kanton Zürich können sowohl die KESB als auch alle praxisberechtigte Ärztinnen und Ärzte eine FU anordnen.
Unser Engagement für die Rechte von Betroffenen
- Über 200 Beratungen hat Pro Mente Sana zum Thema fürsorgerische Unterbringungen im Jahr 2023 durchgeführt.
Aufgrund unserer Beratungstätigkeit sehen wir immer wieder, dass es FU gibt, die nicht gerechtfertigt sind. Im Jahr 2023 berieten wir in über 200 Fällen zum Thema fürsorgerische Unterbringung. Gefragt waren vor allem Unterstützung bei Beschwerden und bei der Vermittlung von Anwälten. Zudem berieten wir immer wieder Angehörige, die sich für die Betroffenen einsetzten. Unsere Berater*innen verfügen über spezifische Kenntnisse in diesem Bereich und können Betroffene und Angehörige gezielt unterstützen. Eine Herausforderung bleibt jedoch, dass sich oft keine Anwälte finden lassen, die bereit sind, Betroffene zu vertreten.
Viele Betroffene, die eine FU von praxisberechtigten Ärztinnen und Ärzten erhalten, werden bereits nach wenigen Stunden wieder entlassen. Dies deutet darauf hin, dass psychiatrische Fachpersonen kurz nach der Einweisung feststellen, dass die Voraussetzungen für eine FU nicht erfüllt sind. Dies wiederum offenbart gravierende systemische Mängel, wie fehlende alternative Möglichkeiten oder die Zuweisungsbefugnis von Ärztinnen und Ärzten ohne entsprechende Schulung. Der Handlungsbedarf ist dringend. Seit Jahren setzen wir uns daher für einen besseren Schutz der Rechte der Betroffenen und für eine verbesserte Praxis bei Zwangseinweisungen ein.
Bereits 2013 haben wir in einem Positionspapier zu Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie verschiedene Forderungen formuliert. Im gleichen Jahr wurde das Recht auf Begleitung durch eine Vertrauensperson bei Zwangseinweisungen im ZGB verankert. Vertrauenspersonen sollen die untergebrachte Person über ihre Rechte und Pflichten informieren, ihr bei der Formulierung und Weiterleitung von Anliegen helfen, bei Konflikten vermitteln und sie in Verfahren begleiten. Zusätzlich können Vertrauenspersonen die Betroffenen bei Entscheidungsprozessen unterstützen.
Von 2019 bis 2023 hat Pro Mente Sana im Rahmen eines Pilotprojekts im Kanton Zürich einen Pool von Freiwilligen aufgebaut, die als Vertrauenspersonen für Zwangseingewiesene zur Verfügung standen, wenn diese keine Vertrauensperson aus ihrem Umfeld hinzuziehen konnten oder wollten. Die Kliniken im Kanton Zürich sind verpflichtet, die Patient*innen auf diese Möglichkeit hinzuweisen. Die Entscheidung über Art und Umfang der Unterstützung liegt bei den Betroffenen selbst. Da eine Regelfinanzierung durch den Kanton nicht erreicht werden konnte, führt Pro Mente Sana das Projekt derzeit nicht weiter. Eine Gruppe von Vertrauenspersonen, die im Rahmen des Pilotprojekts von der Pro Mente Sana ausgebildet wurden, führt das Angebot im Kanton Zürich im Moment auf privater Ebene weiter (weitere Infos).
Unsere Forderungen
- über 18'300 Personen wurden 2022 in der Schweiz gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen (Quelle: Obsan 2024).
2022 wurden die Forderungen aus dem Positionspapier 2013 im Positionspapier "Rechtebasierte Umsetzung der fürsorgerischen Unterbringung" aktualisiert und auf die Missstände im Bereich FU fokussiert. Konkret fordern wir darin, dass…
- …der Freiheitsentzug durch eine FU nur dann verfügt wird, wenn es effektiv keine Alternative gibt. Auf struktureller Ebene haben die Kantone für ein genügendes ambulantes Angebot besorgt zu sein.
- …Fachpersonen, die eine FU veranlassen können, zwingend qualifiziert und (re)zertifiziert sind. Die Relevanz dafür ist in einer neuen Studie aus dem Jahr 2024 von M. Jäger et al. dargelegt: Die Studie zeigt einen direkten Zusammenhang zwischen Anordnungsbefugnis und FU-Rate auf.
- …wenn eine FU verfügt werden muss, in jedem Fall das Vier-Augen-Prinzip angewendet wird.
- …per FU eingewiesene Personen rechtliches Gehör erhalten und über ihre Rechte aufgeklärt werden, insbesondere über das Recht auf den Beizug einer Vertrauensperson und über ihre Beschwerdemöglichkeit.
- …nach jeder FU eine Nachbesprechung mit den beteiligten Personen (einweisende Fachperson und interprofessionelles Behandlungsteam) durchgeführt werden muss (die betroffene Person muss dazu eingeladen werden).
Im Prozess der Vorbereitungen einer Stellungnahme zur Vernehmlassung der Revision des Einführungsgesetzes zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht im Kanton Zürich haben wir unsere Forderungen bzgl. Kanton Zürich zugespitzt, konkretisiert und ergänzt: Hier mehr dazu.
Neben den Verbesserungen der aktuellen Praxis streben wir an, systemische Veränderungen herbeizuführen, um zu verhindern, dass es überhaupt zu einer Eskalation kommt, die eine Entscheidung über eine fürsorgerische Unterbringung (FU) notwendig macht. Ein erstrebenswerter Lösungsansatz wäre die Schaffung eines interdisziplinären Kriseninterventionsteam, welches vor einer FU die Situation zu entschärfen versucht. Eine FU sollte erst in Betracht gezogen werden, wenn ein solches Team an seine Grenzen stösst. Ist ein solches Team interdisziplinär aufgestellt, wäre dies eine gute Lösung für ein fachlich abgestütztes Vier-Augen-Prinzip (vgl. oben). Darüber hinaus ist die Stärkung der Früherkennung und Frühintervention entscheidend.
Interdisziplinärer Dialog für eine bessere Praxis

Um die aktuelle Praxis der FU aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven zu beleuchten und unseren Forderungen Nachdruck zu verleihen, haben wir im Jahr 2023 und 2024 mehrere interdisziplinäre Gespräche organisiert. Wir haben mit Fachpersonen aus dem Gesundheits-, Sozial- und Rechtsbereich sowie Betroffenen- und Angehörigenvertreter*innen über Herausforderungen bei der Anwendung der FU diskutiert sowie über konkrete Lösungsansätze gesprochen. Es zeigte sich, dass die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen entscheidend ist, um die Qualität und die Praxis der FU zu verbessern. Ein wichtiges Anliegen bei diesen Gesprächen war nebst der Verbesserung der aktuellen Praxis auch die Veränderung im System. Das Ziel muss sein, zu verhindern, dass es überhaupt soweit eskaliert, dass über eine FU entschieden wird (vgl. oben).
Politische Entwicklungen: Missstand erkannt – Umsetzung zögerlich
Auch die Politik hat mittlerweile auf die Herausforderungen im Bereich der FU reagiert. Der Bundesrat hat nach diversen parlamentarischen Vorstössen eine umfassende Evaluation zur FU in Auftrag gegeben. Der Bericht vom 2. August 2022 kommt zum Schluss, dass gesetzgeberischer Anpassungsbedarf besteht. Mitte 2025 wird ein Bericht des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) zu FU bei Minderjährigen erwartet. Im Anschluss wird der Bundesrat über eine allfällige Gesetzesrevision der Bestimmungen zur FU sowohl für Erwachsene als auch für Minderjährige entscheiden. Damit zeigt sich, dass die Politik zumindest erkannt hat, dass die FU-Praxis in der Schweiz problematisch ist. Dies überrascht kaum, da internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) wiederholt auf Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit Freiheitsentzug hingewiesen haben. Dennoch bleibt die Politik bei der Umsetzung von Reformen zögerlich. Besonders enttäuschend ist, dass der Kanton Zürich in der Revision des Einführungsgesetzes zum Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (EG KESR) trotz klarer Empfehlungen keine Anpassungen im Bereich FU vorschlägt. Pro Mente Sana fordert deshalb in ihrer Stellungnahme vom September 2024 nachdrücklich, dass das Gesetz angepasst und der Rechtsschutz der Betroffenen verbessert wird.
Was wir uns für die Zukunft wünschen und was die Stolpersteine und Herausforderungen dabei sind, erfahren Sie hier.