13.01.2025
Für eine psychiatrische Versorgung ohne Zwang: Visionen und Herausforderungen
Pro Mente Sana vertritt die Grundhaltung, dass die Psychiatrie ohne Zwang funktionieren muss. Wir anerkennen, dass das geltende Recht in Ausnahmefällen Zwangsmassnahmen vorsieht, jedoch streben wir ein zwangfreies System an. In der Schweiz sind wir von diesem Ziel noch weit entfernt. Um Veränderungen anzustossen, setzen wir uns heute dafür ein, dass die aktuelle Umsetzung verbessert wird.
Das Thema Zwang in der Psychiatrie ist ein zentraler Schwerpunkt unserer Strategie. Wir beschäftigten uns intensiv mit der Frage, wie wir uns zu diesem Thema positionieren.
Pro Mente Sana vertritt als Grundhaltung eine Psychiatrie ohne Zwang, anerkennt jedoch, dass das geltende Recht als ultima ratio (letztes Mittel) diese Massnahmen vorsieht. Wir möchten in den nächsten Jahren eine Vision entwickeln, welche die Realität berücksichtigt und glaubwürdig ist, indem wir bestehende Dilemmata anerkennen und in unsere Überlegungen einbeziehen.
Fakten und Zahlen zum Thema Zwang und fürsorgerische Unterbringung

Im internationalen Vergleich weist die Schweiz eine besorgniserregend hohe Rate an fürsorgerischen Unterbringungen (FU) auf. 2022 wurden über 18.300 Personen gegen ihren Willen in psychiatrische Kliniken eingewiesen (Obsan, 2024). Der Anteil an Zwangsmassnahmen in den Erwachsenenpsychiatrien lag im Messjahr 2022 bei 8,8 %. Insgesamt kam es zu 36.455 Anwendungen von Zwangsmassnahmen, ohne den informellen Zwang zu berücksichtigen (vgl. ANQ Nationaler Vergleichsbericht Messung 2022).
Fokus auf Verbesserungen
Unsere Grundhaltung einer psychiatrischen Behandlung ohne Zwang soll durch die Verbesserung der bestehenden Praxis zum Ausdruck kommen. Pro Mente Sana konzentriert sich auf die rechtebasierte Umsetzung der fürsorgerischen Unterbringung, um die Rechte der Betroffenen zu gewährleisten und die Zahl der Zwangseinweisungen zu reduzieren. Es gibt realistische Massnahmen innerhalb des bestehenden Systems, die bereits jetzt umgesetzt werden können. Weitere Informationen zu unseren Initiativen erläutern wir im Beitrag “Fürsorgerische Unterbringung: Für mehr Gerechtigkeit und systemische Verbesserungen “.
Der Weg zur zwangsfreien Psychiatrie
Damit die Psychiatrie zwangsfrei werden kann, ist jedoch ein grundlegender Systemwechsel notwendig. Dieser Prozess erfordert Zeit, ein Umdenken sowie eine intensive Auseinandersetzung mit bestehenden Dilemmata. Um diesen Wandel zu initiieren und gleichzeitig unsere Vision im Auge zu behalten, beschäftigen wir uns regelmässig mit dem Thema und tauschen uns mit Psychiatrie, KESB und Betroffenen aus. Zudem lassen wir uns von verschiedenen Inputs inspirieren, wie beispielsweise bei unserem Arbeitstreffen 2024 in Bern. Dort erläuterte Prof. Dr. med. Daniele Zullino, Chefarzt der Suchtklinik am Universitätsspital Genf, warum er der Meinung ist, dass auch eine gut durchgeführte FU eine schlechte FU ist. Prof. Dr. Dirk Richter, Leiter Innovationsfeld Psychische Gesundheit und Psychiatrische Versorgung an der BFH und Leiter Forschung Psychiatrische Rehabilitation an der UPD, referierte zu «Zwang in der psychiatrischen Versorgung – Weshalb Zwang nicht länger zu rechtfertigen ist, aber die Menschenrechte immer noch nicht eingehalten werden».
Ergebnisse des Runden Tischs
Bei unserem Runden Tisch am 19. April 2024 mit verschiedenen Fachpersonen sowie Experten aus Erfahrung wurde deutlich, dass die Teilnehmenden den Idealzustand einer Welt ohne fürsorgerische Unterbringung grundsätzlich befürworten. Dennoch sind zeitnahe und konkrete Schritte notwendig, um die bestehenden Herausforderungen zu bewältigen. Diese variieren stark zwischen den Regionen und Kantonen. Der Kanton Genf beispielsweise profitiert von einer höheren finanziellen Unterstützung und einer grösseren Anzahl von Psychiatern, während die Region Biel unterversorgt ist. Es bedarf adäquater Rahmenbedingungen, einer entsprechenden Finanzierung und einer Stärkung der Prävention von FU sowie intermediärer Angebote.
Politische Dimension und Praxis
Das Thema Zwang in der Psychiatrie ist auch politisch relevant. Aktuell sind Gesetzesrevisionen in Arbeit (Bund und Kantone vgl. auch unsere Stellungnahme zur Vernehmlassung Revision EG KESR). Wir sind auf kantonaler Ebene aktiv und möchten „Good Practices“ sowie „Bad Practices“ sichtbar machen, um den Druck auf alle Kantone zu erhöhen.
Wertvolle Erfahrungen haben wir beispielsweise im Tessin gemacht, wo eine enge Zusammenarbeit mit Kliniken und ein Vertrauenspersonenmodell, das Mediation und Begleitung bei Beschwerden umfasst, etabliert wurde. Auch die Unterstützung durch unsere Berater*innen in Fällen von fürsorgerischer Unterbringung und Zwang ist ein wichtiger Teil unserer politischen Arbeit.
Gemeinsam für eine Psychiatrie ohne Zwang
Pro Mente Sana ist überzeugt, dass eine psychiatrische Versorgung ohne Zwang nicht nur möglich, sondern auch notwendig ist. Unsere langfristige Vision einer zwangsfreien Psychiatrie erfordert ein gemeinsames Engagement, das sowohl die Interessen der Betroffenen als auch die Gegebenheiten des Systems berücksichtigt und notwendige Veränderungen vorantreibt. Indem wir bestehende Dilemmata offen ansprechen und pragmatische Lösungen entwickeln, können wir einen bedeutenden Wandel in der psychiatrischen Versorgung herbeiführen. Wir hoffen auf ein Engagement aller Akteure, um diesen wichtigen Prozess gemeinsam voranzutreiben.