Recovery-Geschichte von Adrian Badertscher vom 28. Juni 2023

24.10.2024

Der Wunsch nach Ausgeglichenheit

In seinem anspruchsvollen Job in der Wirtschaftsinformatik suchte Adrian stets den Ausgleich in der Natur und Bewegung. Joggen und Biken waren seine Leidenschaften, und er sprühte vor Energie. Doch sein unermüdliches Streben nach Leistung, getrieben von einem negativen Selbstbild, führte ihn in eine Erschöpfungsdepression. Der permanente Druck, immer mehr zu leisten, liess ihn vergessen, wirklich zu leben. Erst als sein Körper nicht mehr konnte und er Hilfe suchte, begann sein Weg aus der Krise. Heute weiss er, dass wahre Ausgeglichenheit nicht durch Leistung, sondern durch Selbstfürsorge und innere Ruhe erreicht wird.

Bewegung begleitet mein Leben. Ich habe einen kognitiv anspruchsvollen Job in der Wirtschaftsinformatik, zum Ausgleich verbringe ich viel Zeit in der Natur und in Bewegung. Meine Leidenschaften sind das Joggen und Biken. Ich bin ein lebensfroher Mensch und habe viel Energie. Nie hätte ich gedacht, dass es eines Tages mein grösster Wunsch sein würde, ausgeglichen zu sein.

Ich begann der Leistung hinterherzurennen und vergass dabei ‘zu leben’.

Ich habe ein hohes Leistungsstreben, welches einem negativen Selbstbild zugrunde liegt. Dies hat über die Jahre dazu geführt, dass ich mich von einem Menschen zu einer Leistungsmaschine entwickelt habe. Der permanente Drang zu leisten und die fehlende Selbstfürsorge hatten zu Folge, dass ich im Herbst 2021 in eine Erschöpfungsdepression fiel. Ich habe mein Leben ständig optimiert, versuchte mehr und mehr in meinen Alltag zu packen. Ich begann der Leistung hinterher zu rennen und vergass dabei ‘zu leben’. Ich verlor meine Träume aus den Augen. Meine Gedanken drehten sich nur noch um Leistung. Der reizüberflutete Zustand wurde zur Normalität, später zur Sucht. Die sportlichen Aktivitäten begleiteten nicht mehr mein Leben, sondern bestimmten es. 1,5 Jahre lang war ich in diesem Zustand gefangen, bis ich eines morgens nicht mehr in der Lage war, ein lockeres Lauftechniktraining zu absolvieren. Mein Körper konnte nicht mehr. Ich schaffte es fast nicht mehr, das eine Bein vor das andere zu setzen. Für einen leidenschaftlichen Läufer wie mich ein Schock. Mir wurde klar, dass ich so nicht weiter machen konnte bzw. wollte und suchte das Gespräch mit einer Psychiaterin. Ich bin unendlich dankbar für ihre klaren Worte: «Sie brauchen einen Cut. Sie müssen raus aus dem Hamsterrad. Sie werden es in der momentanen Situation nicht schaffen, wieder zur Ruhe zu kommen». Ich entschied, den Kampf aufzugeben und mich für einen Klinikaufenthalt anzumelden. Dies war der Beginn der eigentlichen Krise. Gefühle, versagt zu haben, machten sich breit.

In der Krise ging es für mich in einem ersten Schritt darum, aus dem reizüberfluteten Zustand auszusteigen, zur Ruhe zu kommen, Dinge ohne Leistungsdruck anzugehen. Dies braucht Zeit und geht nicht von heute auf morgen. Früher versuchte ich mich dauernd zu beschäftigen, um mich von unangenehmen Gedanken abzulenken. In einer ersten Phase der Genesung fiel ich in alte Muster zurück, obwohl ich bereits Veränderungen im Aussen vorgenommen hatte. Ich hatte weniger Energie in Job und Sport investiert, dafür hatte ich neue Projekte im Rahmen einer selbstständigen beruflichen Tätigkeit in Gang gesetzt, um wieder beschäftigt zu sein. Ich nahm mich nicht zurück, um hinschauen und eruieren zu können, woher dieser Leistungsdruck kam. Im Sinne von «alte Schläuche, neuer Wein». Nach ca. 11 Monaten hatte ich einen Rückfall. Einen Zweiten nach ca. 16 Monaten. Mein Körper hatte mir hier erneut einen klaren Stopp signalisiert. Ich wurde krank und geriet in einen mir bisher unbekannten Ruhezustand. Ich realisierte, was in den letzten Jahren passiert war und wie ich mich in meinem Leben verstrickt hatte. 

«Wir alle haben zwei Leben. Das Zweite beginnt, wenn wir realisieren, dass wir nur Eins haben.» – Tom Hiddleston 

Rückblickend sind es folgende Punkte, die mir in der Krise geholfen hatten:

Punkt #1: Darüber sprechen. Insbesondere mit Leuten, die die gleichen Erfahrungen gemacht haben. Es gibt kein besseres Heilmittel als mit jemandem die Erfahrung des inneren Krieges der Depression teilen zu können. 

Punkt #2: Sich Hilfe holen. Lieber früher als später. Je länger die Qualen, desto länger die Heilung. Es ist kein Versagen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. 

Punkt #3: Stopp sagen. Es braucht einen Ausbruch aus dem Hamsterrad, – Zeit und Raum, um das Geschehene aus der Distanz zu betrachten. 

Punkt #4: Akzeptieren. Es ist okay, in der Krise zu sein, nicht leistungsfähig zu sein, Zeiten der Schwäche zu haben etc. Alles ist endlich, somit auch diese Phase. 

Punkt #5: Abgrenzen. Von Menschen, Dingen, Situationen etc., die mir nicht guttun. In der Krise hat mir die Energie gefehlt, mich abzugrenzen. Für mich war es hilfreich, gewisse Kontakte während der Akut-Phase zu meiden. 

Punkt #6: Letzter und wichtigster Punkte: Liebevoller Umgang mit mir. Stoppen der Schuldgefühle und mir verzeihen, was passiert ist. Ich begann mir mit Selbstmitgefühl zu begegnen statt mich über einen Selbstwert (und somit Leistung) zu definieren. 

Heute geht es mir besser. Es gibt wieder Tage der tiefen Verbundenheit und des Vertrauens. Ich kann langsam den Ursprung des starken Leistungsdrucks therapeutisch aufarbeiten. Es gibt immer noch Tage, an welchen mich alte Muster beherrschen. Ich lerne, mir die notwendige Erholung zu gönnen. Nebst ausreichendem Schlaf braucht der Körper Bewegung. Im richtigen Mass, in der richtigen Intensität, in der nötigen Abwechslung. Ein Gefühl zu bekommen, was je nach Situation für mich richtig ist, erfordert viel Aufmerksamkeit. Manchmal ist der Körper ermüdet aufgrund einer depressiven Verstimmung, manchmal aufgrund von fehlender Erholung. Im zweiten Fall löst intensiver Sport zusätzlichen Stress aus. Statt aus alten Gewohnheiten zu handeln, frage ich heute meinen Körper. Liegt Auspowern beim Sport drin oder ist das Bedürfnis, mich einfach etwas zu bewegen, vorhanden? Rituale im Alltag (bspw. Morgenroutine, Entspannungsoase durch den Tag, Abendroutine etc.) helfen mir, während des Tages Raum zum Innehalten zu schaffen. Zu fragen, wie es mir gerade geht und zu spüren, wie stark der Leistungsdruck mein Verhalten bestimmt. 

Ein weiteres Werkzeug ist eine Audio-Aufnahme von meinem ausgeglichenen Ich. Setzte ich zu einem Sprint in die falsche Richtung an, mache ich mir damit bewusst, dass dies nicht der nachhaltige Weg ist und ich mich jetzt anders entscheiden kann. Klingt logisch und einfach in der Theorie. In der Praxis als alleinstehende Person, die gerne mit sich allein ist und wenig Feedback von aussen bekommt, ist das eher schwierig. Ich bin unglaublich dankbar für meinen Psychologen und die wunderbaren Podcasts der Coaches Christian Bischoff und Laura Malina Seiler. Die Inputs aus den Podcast-Episoden und Gesprächen sind Balsam für die Seele – vielen herzlichen Dank für eure grossartige Arbeit. 

Eine psychische Erschütterung hinterlässt Spuren, tiefe Wunden, die Zeit und Raum brauchen, um zu heilen. Noch heute überkommt mich ein emotionaler Schmerz bei den Gedanken an die fast 1,5 Jahre andauernde Akut-Phase. Trotzdem bin ich unglaublich dankbar für die Erfahrungen dieser Phase. Früher fand mein Leben im Aussen statt. Ich habe dort Ruhe, Glück, Anerkennung und Zugehörigkeit gesucht. Heute weiss ich, dass dies alles nur in mir zu finden ist. Ich bin zu meinem besten Freund geworden, mit welchem ich eine liebevolle und versöhnliche Beziehung pflege. Der Blick nach innen lässt mich wieder erkennen, wer ich bin. Zurück zu meinem authentischen Leben, frei von dem, was mir von der Gesellschaft vorgelebt wird. Frei von selbst formulierten Erwartungshaltungen, wie ich eigentlich ‘funktionieren’ müsste, um ‘zugehörig’ zu sein. 

In unserer Gesellschaft lernen wir zu leisten, jedoch lernen wir nicht, für uns selbst zu sorgen. Unsere Gesellschaft darf lernen, psychische Krankheiten als Krankheit zu akzeptieren. Ich erhoffe mir, durch das Teilen meiner Geschichte, mehr Verständnis in unserer Gesellschaft für Menschen mit psychischen Erkrankungen zu schaffen. Eine Tätigkeit im Alltag mag für die eine Person Genuss sein, für einen Menschen mit einer seelischen Krankheit kann dieselbe Tätigkeit ein Pflichtprogramm darstellen, um ausgeglichen zu bleiben. Andere Bedürfnisse, andere Prioritäten. Daher sind gut gemeinte Ratschläge wie ‘erhol dich doch mal’ oder ‘reiss dich etwas zusammen’ nicht angebracht. Eine Nachkontrolle nach einem Klinikaufenthalt gibt es nicht. Wenn ich durch das Teilen meiner Geschichte auch nur eine einzige Person zu diesem Perspektivenwechsel bewegen kann, hat sich meine Mühe gelohnt. 

Vielen Dank fürs Lesen, liebe:r Leser:innen.

Die Podcast-Episoden sind:

  • Erfolgsfaktoren Burnout-Ausbruch (Serie): Darüber sprechen.💬 (Folge #21) à Wird am 16.04.2024 veröffentlich

Zum Punkt «#5: Abgrenzen» gibt es derzeit noch keine Folge, geplant ist hier eine Episode mit einem Gast, ebenfalls Experte aus Erfahrung in Bezug auf den Burnout.

adrian@adrian-badertscher.ch