Recovery-Geschichte von Noëmi Schöni vom 13.12.2022
24.10.2024
Der unsichtbare Rollstuhl
Seit Noëmi Schöni denken kann, weiss sie, dass sie anders ist. Wie vielen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen sieht man ihr die Belastungen nicht an. In ihrem Bericht beschreibt sie eindrucksvoll, wie sich diese unsichtbaren Hindernisse anfühlen – wie ein unsichtbarer Rollstuhl, der sie im Leben einschränkt, ohne dass andere ihn wahrnehmen. Ihre Geschichte gibt Einblick in die oft übersehene Realität psychischer Erschöpfung und zeigt gleichzeitig, wie sie heute ihre Erfahrungen nutzt.
Stell Dir vor, Du wärst aufgrund eines angeborenen oder unfallbedingten Gebrechens auf einen Rollstuhl angewiesen. Wie würde dann Dein Leben aussehen? Wärst Du glücklich darüber, dass Dir dieser Rollstuhl ein Leben ermöglicht, welches ohne dieses Hilfsmittel kaum möglich wäre? Oder wärst Du unglücklich, weil Du im Gegensatz zu gesunden Menschen nur ein eingeschränktes Leben führen könntest? Und was würde es für Dich bedeuten, wenn niemand ausser Dir diesen Rollstuhl wahrnehmen könnte obwohl Du tagtäglich an ihn gebunden bist? Die Menschen würden Dich vielleicht fragen, warum Du nach einem gemeinsamen Essen, statt aufzustehen, sitzen bleibst. Warum Du nie die Treppe, sondern immer nur den Lift benutzt. Warum Du nicht direkt ins Auto steigst, sondern einige Minuten länger als die meisten Menschen brauchst. Warum Du nicht rennst, wenn Dir der Bus vor Deiner Nase wegzufahren droht. Warum Du lieber zu Hause bleibst, als Dich unter Menschenmengen zu begeben. Und warum Du manchmal lieber allein bleibst, als mit Menschen Zeiten zu verbringen, die Du von Herzen liebst.
Und was wäre, wenn Du diesen fragenden Menschen zu erklären versuchst, dass Du in einem unsichtbaren Rollstuhl sitzt und im besten Fall einen Versuch von Verständnis erlebst und im schlimmsten Fall spürst oder sogar hörst, dass Dein Gebrechen überwindbar ist? Vielleicht findest Du Dich irgend eines Tages damit ab, dass nur Du Deinen Rollstuhl wahrnehmen kannst. Du fühlst Dich damit vielleicht allein und sozial isoliert, weil Dich Dein Rollstuhl in vielen Aktivitäten einschränkt und Du – im Gegensatz zu Menschen mit einem «richtigen» Rollstuhl – noch weniger soziale Integration erfährst. Wie lebenswert ist ein solches Leben? Diese berechtigten Fragen stellen sich wohl viele Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, wie zumindest die hohen Suizidraten in unserem Land vermuten lassen.
Soweit ich mich zurückerinnern kann, sitze ich in einem Rollstuhl, den scheinbar kaum jemand ausser mir sehen kann. Ob aufgrund dieses Umstands oder dem Gebrechen, das mich an diesen Rollstuhl bindet, hatte ich als Kind oft Todessehnsucht. Gleichzeitig habe ich mir dank dem Neid anderer auf mich und mein scheinbar beneidenswertes Leben immer wieder die vielen Ressourcen vor Augen geführt, über die ich offensichtlich verfügte. Der Gedanke, dass ich trotz meiner unsichtbaren Behinderung erfolgreich werden könnte, hat mich in einem Ausmass angetrieben, welches mich meinen Rollstuhl beinahe fast ganz vergessen liess: Ich trainierte mit derart viel Disziplin, dass ich mich mit meinen eigenen Armen aus dem Rollstuhl erheben und mich mit weiteren Hilfsmitteln auf Augenhöhe mit anderen Menschen scheinbar uneingeschränkt fortbewegen und diese teilweise sogar überholen konnte.
Was will man bzw. Frau noch mehr? Die meisten Menschen haben wohl eher das Problem, dass ihre Fähigkeiten von ihren Mitmenschen nicht oder zu wenig gesehen bzw. anerkannt werden. Ich surfte dagegen viele Jahre auf einer Erfolgswelle, die ich angesichts meiner erschwerten Bedingungen in vollen Zügen genossen hatte. Doch dann passierte etwas, womit ich nie in meinem Leben gerechnet hätte: Mein Lebenstraum von einer eigenen Familie entpuppte sich als wahrer Albtraum. Mein Kind, das ich mir so sehr von ❤️ gewünscht hatte, war kerngesund und ein kleiner Sonnenschein. Nur mit mir stimmte seit Beginn der Schwangerschaft etwas nicht mehr: Ich war plötzlich ständig krank und nach wenigen Monaten war ich körperlich so erschöpft, dass in mir Panik aufstieg, wie ich das nach der Geburt alles schaffen sollte.
Trotzdem schien mein Umfeld nicht zu erkennen, wie schlecht meine gesundheitliche Verfassung bereits damals schon war. Deshalb wurde ich von meinem Mann und auch meinem damaligen Arbeitgeber immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, ich würde meine anhaltende Arbeitsunfähigkeit nur vortäuschen. Was diese Menschen jedoch verkannt hatten, war die Tatsache, dass ich mit der Geburt meiner Tochter meine Arme für mein Baby brauchte, um dieses liebevoll halten und wiegen zu können, was mich wieder in meinen Rollstuhl zurück zwang. Die Tools, die früher hilfreich waren, wurden plötzlich zu einer zusätzlichen Last, die ich auch noch mit mir herumschleppen musste. Und so weh es mir auch selbst getan hatte, mich wieder mit meinem schon fast vergessenen Gebrechen konfrontiert zu sehen, weil ich wieder auf meinen unsichtbaren Rollstuhl angewiesen war, so wollte ich doch unbedingt auch für mein Baby da sein.
- Was diese Menschen jedoch verkannt hatten, war die Tatsache, dass ich mit der Geburt meiner Tochter meine Arme für mein Baby brauchte, um dieses liebevoll halten und wiegen zu können, was mich wieder in meinen Rollstuhl zurück zwang.
Leider war zuhause niemand anderes da, der meine Tochter für mich hätte halten können, wenn ich Unterstützung gebraucht hätte. Also versuchte ich, während der Schlafenszeit meines Kindes, die nur wenig mehr als mein Schlafbedarf betrug, wieder zu trainieren. Die Zeit war jedoch einfach zu knapp und ich u.a. wegen meines erheblichen Schlafmangels zu erschöpft, um auch nur ansatzweise in die Nähe meiner vormütterlichen Armstärke zu gelangen. Dadurch wurde mir schnell bewusst, dass ich unter diesen Umständen noch länger auf meinen unsichtbaren Rollstuhl angewiesen sein werden würde.
Doch der Druck und die Erwartungen von meinem Noch-Ehemann sowie dem Eheschutzrichter waren so hoch, dass ich mich aus finanziellen Gründen gezwungen sah, weit(erhin) über meine Grenzen hinaus zu gehen. Diese ständige Überforderung führte zu einer massiven Gereiztheit, die für mein privates und geschäftliches Umfeld scheinbar unerträglich wurde. Und irgendwann war ich so erschöpft, dass ich mich freiwillig in einen stationären Klinikaufenthalt begab.
Auch nach drei weiteren Klinikaufenthalten sind meine Arme zu schwach, um mich längerfristig ohne Rollstuhl fortbewegen zu können. Ich weiss nicht, wann ich wieder genug Kraft haben werde, um mich wieder dauerhaft aus meinem unsichtbaren Rollstuhl zu erheben. Es ist jedoch klar, dass ich dies nur mit entsprechender Unterstützung schaffen werde. Und die kommt von Menschen, die mich und mein Gebrechen sehen und verstehen können, oder mir zumindest die Hilfe bieten können, auf die ich in meiner Situation angewiesen bin. Dazu gehören insbesondere meine drei Elternteile, Krippen mit flexiblen Betreuungsmodellen, das Schweizerische Rote Kreuz mit seiner Notfall Kinderbetreuung sowie medizinische und viele weitere Fachpersonen.
- Denn in uns allen – ob psychisch gesund oder nicht – schlummert ein einzigartiges Potential, das sich erst nach dessen Entdeckung wirklich entfalten kann.
Gleichzeitig habe ich aufgehört mir Ziele zu setzen, weil die Frustration über das anschliessende Scheitern für mich immer wieder zu gross war. Stattdessen habe ich mir meine wahren Werte wieder vor Augen geführt und lebe – soweit es mir als alleinerziehendes Mami möglich ist – auch im alltäglichen Leben danach.
Vor kurzem habe ich mich aufgrund meiner langjährigen Leidensgeschichte und der daraus entstandenen Erkenntnisse entschieden eine fachübergreifende Anlaufstelle für erschöpfte Eltern zu gründen:
Die ElKi-Oase unterstützt Eltern von minderjährigen Kindern beim selbstständigen Meistern von Lebenskrisen durch juristische, psychologische, pädagogische & traumasensible Begleitung. Dadurch hat sich aus meiner eigenen Lebenskrise ein tiefer Sinn offenbart, welchen ich zu Beginn nicht hätte erkennen können.
Insofern bin ich dankbar, dass alle Herausforderungen auch immer Chancen beinhalten. Und auch wenn es manchmal gerade in grossen Lebenskrisen schwierig ist, diese zu sehen, so helfen Geduld und Zuversicht auf lange Sicht. Denn in uns allen – ob psychisch gesund oder nicht – schlummert ein einzigartiges Potential, das sich erst nach dessen Entdeckung wirklich entfalten kann.
Hätte ich mir als traumatisiertes Scheidungskind jemals erträumt, dass ich statt einer Anwaltskanzlei für Scheidungen eine fachübergreifende Anlaufstelle für erschöpfte und überforderte Eltern in Lebenskrisen aufbauen würde? Nein.
Es handelt sich dabei um etwas Neues und Einzigartiges, das erst durch meine eigene Erfahrung als alleinerziehende und erwerbstätige Mutter eines Kleinkindes mit einer anhaltenden Erschöpfungsdepression und insgesamt vier Klinikaufenthalten hat entstehen können. Und wer plant in seinen beruflichen Werdegang ein Burnout geschweige denn mehrere Aufenthalte in einer psychiatrischen Klinik ein? 😉